Die Zahlen des Bundesamts für Umwelt zeigen klar, dass immer mehr Rinder und Equiden in der Schweiz von Wölfen gerissen werden. Das geltende Recht erlaubt in einem solchen Fall den Abschuss der beteiligten Grossraubtiere (siehe Kasten), doch das hilft nicht gegen die Angst, die sich auf den Alpen breitmacht. Wenn das Nebeneinander von Sömmerung und Wölfen vorgeschrieben wird, braucht es praktikable Lösungen jenseits der Aufgabe ganzer Alpen. Abschüsse haben sich bisher nicht als Patentrezept erwiesen, doch es wird von anderer Seite daran gearbeitet, die Situation zu verbessern.
Von Literatur bis Fladry
Die Stiftung Kora hat 2022 das Projekt «Wolves and Cattle» gestartet, das eine Wissensbasis für ein konfliktarmes Zusammenleben von Wölfen und Nutzierhaltern in der Schweiz schaffen will – mit einem Fokus auf Rinderhalter. Dafür arbeitet die Stiftung mit diversen Partnern zusammen, von Behörden über die Agridea bis zu Alpbetrieben. «Das Projekt ist in vollem Gange», versichert die Kora-Kommunikationsverantwortliche Nicole Bosshard. Es gelte Risikofaktoren für Übergriffe auf Rinder zu verstehen und herauszufinden, welche Massnahmen am zielführendsten sind.
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Das Projektteam arbeitet auf verschiedenen Ebenen:
Literatur: In einem ersten Schritt wird das weltweite Wissen und die Erfahrungen zu Interaktionen von Wölfen und Rindern zusammengefasst.
Besenderte Wölfe: Markierte Tiere liefern Daten zu Bewegungsmustern sowie Lebensraumnutzung und können bei der Beurteilung der Wirkung von Vergrämungsmassnahmenhelfen.
GPS-Halsbänder: An Rindern zeigen sie den Einfluss der Wölfe auf das Verhalten des Viehs.
Turbo-Fladry: Zusammen mit Alpbetrieben wird der Einsatz dieses eindrahtigen Elektrozauns mit regelmässig angeordneten Lappen getestet.
Nahrungsanalyse: Die Untersuchung von 400 Proben gibt Aufschluss über das Nahrungsspektrum der Wölfe in der Schweiz.
Kommunikation: Dank einem entsprechenden Konzept werden bereits erste Schritte im Projekt «Wolves and Cattle» öffentlich und zielgerichtet nach aussen kommuniziert.
Nach dem Start des Projekts im letzten Jahr steht es noch am Anfang. Es hat aber bereits Sendermarkierungsversuche mit Wölfen im Kanton Waadtgegeben.
Letal oder nicht letal
Zum besseren Verständnis der Situation gehört laut Kora wie erwähnt auch das Wissen, welche Faktoren aufseiten der Wölfe und aufseiten der Rinder das Risiko für Angriffe beeinflussen können. Kora gibt sich dabei offen und will herausfinden, welche nichtletalen oder auch letalen Massnahmen bereits eingesetzt werden und unter welchen Bedingungen sie effizient sind. Abschüsse sind also kein Tabu, es geht um die beste Wirkung je nach Situation.
«Wir fokussieren nicht nur auf Herdenschutz.»
Nicole Bosshard, Kora, über das Projekt «Wolves and Cattle» der Stiftung.
Die Literaturrecherche zu den Schutzmassnahmen im Ausland läuft. Insbesondere in jenen Regionen, wo Wölfe nie ganz ausgerottet worden sind, seien Herdenschutzpraktiken auch für Rinder und Equiden zur Normalität geworden. «Die technischen Massnahmen kennen wir von Schaf- und Ziegenalpen», führt Nicole Bosshard aus: Nachtpferche, Herdenschutzhunde, Behirtung. Kora untersucht ausserdem die Strategien von Bauern und Älplern sowie die Zusammensetzung und Führung der Herden in wolfserfahrenen Gebieten. «Wir werden uns nicht nur auf den Herdenschutz fokussieren, sondern auch auf die Umsetzung von Managementmassnahmen auf der Wolfsseite», so Bosshard.
Jetzt beginnen
Gemessen an der totalen Anzahl Risse ist der Anteil Rinder und Equiden in der Schweiz derzeit klein und bewegt sich unter 5 Prozent. «Das Ziel ist natürlich auch, dass es so bleibt», stellt Nicole Bosshard klar. Allerdings geht die Stiftung Kora davon aus, dass die Fälle zunehmen werden, und auch mit der neuen Revision des Jagdgesetzes werden Wölfe mit Rindern und Pferden im selben Gebiet leben. Darum sei es wichtig, bereits jetzt mit der Untersuchung zu beginnen und die wenigen verfügbaren Daten zu sammeln. «Nur so werden wir später genügend Daten haben, um robuste Ergebnisse zu erzielen», schliesst Bosshard.
Schutz wird vorausgesetzt
Seit diesem Sommer ist eine neue Jagdverordnung in Kraft. Sie erlaubt die Regulierung eines Wolfsrudels oder von Einzelwölfen, sobald ein Tier der Rinder- oder Pferdegattung getötet oder schwer verletzt worden ist. Vorausgesetzt wird allerdings, dass die Verantwortlichen die «zumutbaren Schutzmassnahmen» getroffen haben. Für Grossvieh in Regionen mit bisher nachgewiesener Wolfspräsenz bedeutet das:
Überwachung: des Muttertiers mit seinem Jungtier während der Geburt.
Gemeinsame Haltung: auf betreuten Weiden in den ersten zwei Lebenswochen.
Sofortiges Entfernen: von Nachgeburten und toten Jungtieren.
Über die zu treffenden zumutbaren Massnahmen in Regionen ohne bisherige Wolfspräsenz entscheiden die Kantone.

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