Es gehe nicht um Politik, sondern um Bäuerinnen und Bauern, welche die Last der steigenden Wolfspopulationen mit Schweiss und Tränen bewältigen müssten, sagte André Siegenthaler zu Beginn der Veranstaltung. Eingeladen hatte die Fachkommission Grossraubtiere des Glarner Bauernverbands unter dem Titel «Mit oder ohne Risse – Schaden für Leib und Seele».
Schnee, Nebel und Wolf
[IMG 2] So kämpfte Michelle Elmer mit den Tränen, als sie von den Wolfsangriffen erzählte. Ihr Mann Urs, sie und die beiden Kinder Elias und Ella bewirtschaften mit einem Angestellten die Alp Camperdun, oberhalb von Elm. Sie sömmern 40 Kühe und rund 50 Rinder. Auf dem 25 ha grossen Heimbetrieb weiden neben dem Rindvieh zudem Alpakas. «Der Sommer ist streng. Aber wir lieben das Älplerleben», sagte Michelle Elmer. Zäunen, die Tiere beaufsichtigen, melken auf der Alp, die Milch runter ins Tal führen, dazu kommt das Heuen auf dem Heimbetrieb. So zählte sie die viele Arbeit auf. Die Kinder gehen von der Alp hinunter zur Schule, den Fahrdienst übernimmt sie.
«Man weiss keinen Tag, was man antrifft.»
Michelle Elmer, Bäuerin aus Elm, bewirtschaftet mit ihrer Familie die Alp Camperdun.
Dann erzählte sie von den Wolfsrissen. Mitte August war das Wetter grausig – es schneite. Sie ging am Morgen früh zu den Rindern. Als Erstes sah sie Blutspuren im Schnee und entdeckte kurz darauf das schwer verletzte Rind mit Namen Arve. Sie griff zum Telefon, informierte ihren Mann, den Landwirt, dem das Rind gehört, den Wildhüter und den Tierarzt. Der Landwirt entschied, Arve über den inzwischen abgerutschten Weg von der Alp runterzuholen. An Helikopterflug war aufgrund des Schnees und des Nebels nicht zu denken. Arve hatte eine langwierige Behandlung nötig, bis ein Antibiotikum anschlug und der Genesungsprozess in Gang kam.
Elmers zäunten die Rinder über Nacht ein. Am anderen Morgen sah Michelle Elmer schon von Weitem, dass die Hälfte der Rinder fehlte. Sie fand sie oben am Grat. «Gut hat der Zaun gehalten», sagte sie.
Auch noch Rahel und Julia
Viele Rinder hatten Kratzspuren. Es fehlten aber zwei Mäsen. Rahel fand sie tot und halb zerfressen, Julia schwer verletzt. Julia wurde runter zum Kuhstall transportiert und dort gepflegt, bis sie bei besseren Wetterverhältnissen ins Tal geflogen werden konnte. «Wir wechselten dann regelmässig die Weide, gingen sowohl abends wie morgens zu den Rindern – obwohl man weiss, dass das nichts nützt», sagte Michelle Elmer. Gleichwohl hatte sie das Gefühl, gegenüber dem Besitzer versagt zu haben. «Ich komme nicht aus der Landwirtschaft, sondern aus einer Akademikerfamilie, wo man Toleranz predigt», fügte sie an. Aber damit war es vorbei, als im Oktober Wölfe ihre Alpakaherde mit Jungtieren und trächtigen Stuten angriffen. Die Weide ist in Sichtkontakt zum Bauernhaus.
Acht getötete Alpakas
Sieben der 20 Alpakas waren von Wölfen getötet worden. Gerissen hätten die Wölfe die stärksten Tiere, die sich am meisten gewehrt hätten. Elmer stallte die übrigen Alpakas unter Zeitdruck ein, informierte Ehemann Urs, der beim Melken war, den Wildhüter, den Tierarzt und schickte die Kinder in die Schule. Neben den sieben getöteten starb ein weiteres Alpaka an den Verletzungen. Zwei schwer verletzte Alpakas konnten dank eines einmonatigen Aufenthalts im Tierspital gerettet werden.
«Es war ein Schock, auch für die Kinder, welche die Alpakas mit aufgezogen haben», sagte die Bäuerin und wischte sich die Tränen weg. «Man weiss keinen Tag, was man antrifft», beschrieb sie den dauerhaften Stress und die schlaflosen Nächte. Angegriffen wurden die Alpakas vom Kärpfrudel. Die Glarner Behörden dürfen den Leitwolf des Kärpfrudels vom 1. November 2023 bis zum 31. Januar 2024 schiessen. Aber noch lebt er.
Was lösen Wolfsrisse bei Ihnen aus?
Lukas Marti: «Wolfsrisse nehmen einem alle Energie»
[IMG 3] «Wir sömmern 100 Mutterkühe plus Rinder und Kälber, total 250 Rindvieh und 150 Schafe auf der Alp Mürtschen. Wolfsrisse nehmen einem alle Energie. 2022 gab es schon Risse, vermutlich von Einzelwölfen. 2023 eskalierte es. Wir verloren 20 Schafe, definitiv vom Schiltrudel. Entschädigt wurden aber nur neun. Die übrigen elf waren vom Rudel verschleppt worden. Ich habe sogar bei den Schafen übernachtet. Als die Hunde kurz bellten, machte ich mit der Taschenlampe die Runde, sah nichts. Am Morgen entdeckte ich zwei tote Schafe, 50 Meter vom Schlafsack entfernt. Uns reichts. Wir geben die Schafalpung auf.»
Silvia Elmer Gantenbein: «Alle fürchten sich vor Wolfsrissen»
«Wir sömmern 700 Schafe auf der Alp Wichlen. 2022 hatten wir durch Wolfsangriffe 52 getötete und verletzte sowie 32 vermisste Schafe. Es war ein Massaker. Unser Sohn Samuel und Betriebsnachfolger war Tag und Nacht beschäftigt. Beim Heuen auf dem Heimbetrieb schreckt jeder zusammen, wenn das Telefon klingelt. Man wird konfrontiert mit saloppen Sprüchen, wie «Für gerissene Schafe werdet ihr ja bezahlt» oder «Die Schafe gehen sowieso in die Metzg». 2023 hatten wir keine Risse. Der Aufwand war enorm. Wir verstellten jeden Abend den Nachtpferch, um Risse zu verhindern.» [IMG 4]
Doris Theiner: «Nicht mal eine bewohnbare Hütte»
[IMG 5] «2022 waren wir nur zu zweit Alp Lumpegna (GR) – das ging oft über unsere Kräfte. 2023 hatten wir einen Hilfshirten, finanziert über das Bafu. Wir sömmern Schafe, Ziegen, Mutterkühe, Pferde, Yaks und Esel, haben drei offizielle und drei nichtoffizielle Herdenschutzhunde. Wo das Gelände es zulässt, machen wir Nachtweide. Keinen Nachtpferch, weil dadurch der Krankheits- und Parasitendruck steigt. Wolfsrisse hatten wir keine, aber von Herdenschutzhunden gerissene Lämmer und vermisste Schafe. Sollte es zu Rissen kommen, stehen wir schlecht da – trotz aufwendigem Herdenschutz und allen Anstrengungen. Wir haben nicht mal eine bewohnbare Hütte.»
Coach für Wolfsgespräche
Seit dem Frühling 2023 boykottieren die Glarner Landwirte den runden Tisch, den die Glarner Regierung zur Wolfsproblematik eingerichtet hatte. «Das war eine reine Informationsveranstaltung ohne Austausch», sagt der ehemalige Älpler Giorgio Hösli. «Die Landwirte fühlten sich nicht ernst genommen», so Hösli. Er gründete mit André Siegenthaler einen Gesprächskreis Wolf. Dort treffen sich monatlich zu Hause bei Hösli und Barbara Sulzer Landwirte und Personen aus Umweltkreisen und tauschen sich aus. Sie haben sogar einen Coach engagiert, der über eine konstruktive Gesprächskultur wacht. Bisher einigten sie sich auf einen Leitspruch: «Populationserhaltung des Wolfs und Erhalt sowie Wertschätzung der Weide- und Alpwirtschaft». Nächstens würden sie über den Herdenschutz sprechen. «Die Anerkennung der Älpler(innen) fehlt zurzeit gänzlich», sagt Giorgio Hösli, «Man traut ihnen nicht zu, dass sie das Beste und Menschenmögliche zum Schutz ihrer Herden tun.» Eigentlich fordert «Wolfsgespräche» ein eigenständiges kantonales Wolfsmanagement. Sie hätten mit dem zuständigen Regierungsrat Kontakt aufgenommen. Dieser hätte aber einem Treffen nicht zugestimmt.
