Wer kennt es nicht: Der Hund der Spaziergängerin ist plötzlich ausser Rand und Band, all ihr Pfeifen und Rufen hilft nichts mehr, in vollem Tempo rennt er auf das Kind zu, bellt und knurrt, bis die Herrin endlich auch da ist und erklärt: «Er macht nichts, er ist ein Lieber.»
Nicht viel anders verlief die mediale Diskussion, die auf die Wolfs-Begegnung vom 23. Januar in Elm GL folgte. Ein Wolf näherte sich einem im Freien spielenden Bauernkind bis auf eine Distanz, in der bei einem plötzlichen Angriff alle Flucht und Gegenwehr unmöglich gewesen wäre. Was noch vor ein paar Jahren nur in der Fantasie fanatischer Wolfsgegner vorkam, war plötzlich Realität.
Die Empörung war gross. Bei den einen darüber, dass die von der Politik verordnete Koexistenz von Wolf und Mensch nun damit endet, dass Mütter um ihre Kinder fürchten müssen. Bei den anderen darüber, dass sich die Mutter an die Medien wandte. Schnell hatte die Gruppe Wolf Schweiz den wahren Schuldigen ausgemacht: «Wer Angst sät, erntet Angst», war in einer «Einordnung» des umtriebigen Jägers, Bauern und Wolfssafari-Guides David Gerke zu lesen. In den Glarner Bergtälern werde nämlich seit längerem eine Gefahr heraufbeschworen und mit «Falschinformationen gezielt Ängste geschürt».
Fast wie zu Anna Göldis Zeiten also. Die Mitteilung liest sich wie eine Warnung vor einem Rückfall in eine Zeit, als Eltern ihren Kindern mit Schauermärchen die Angst vor allem Neuen und Fremden und damit unbedingten Gehorsam einbläuen wollten. Der Wolf und die sieben Geisslein. Rotkäppchen.
«Rotkäppchen» fällt in der Wolfsdebatte immer dann, wenn Gegner des per EU-Gesetz verordneten Anwesenheitsrecht des Wolfes in seinem natürlichen Verbreitungsgebiet – das ist nach offizieller Auslegung einfach überall dort, wo er eben gerade ist – als rückständig und fortschrittsfeindlich dargestellt werden sollen. In den Kindergärten des Landes wird das Märchen meist nicht mehr vorgelesen – zu brutal ist es den Pädagoginnen. Es erzählt die Geschichte von der grossen Angst vor dem finsteren Wald und dem kleinen Mädchen, das diese überwindet, um der lieben Grossmutter nahe zu sein. Bemerkenswert: Rotkäppchen darf alleine in den Wald.
Das war es mit dem Idyll
Geht es nach den Naturschützern, wäre das so bald nicht mehr möglich. Nach dem Wolfsangriff auf ein Kind in den Niederlanden bestand die erste Massnahme der Regierung darin, das Waldstück für Kinder zu sperren. Und auf der Website des österreichischen WWF findet sich eine bemerkenswerte Verhaltensempfehlung: Kinder, klären die Naturschützer dort auf, sollten sowieso nie alleine im Wald spielen. Dort könne es nämlich zu «Unfällen mit Wildtieren» kommen.
Das war es also mit dem ländlichen Kindheitsidyll. Die grosse Freiheit, stundenlang durch die Wälder zu streifen, sich Verstecke zu suchen, Baumhütten zu bauen, Indianer zu spielen – wobei Letzteres schon länger problematisch ist, da es irgendwie mit Rassismus zu tun hat.
«Mutter, darf ich heute mit Ronja in den Wald?», fragt das Kind. «Nein», antwortet die Mutter. «Es ist zu gefährlich.»
«Weshalb? Warum?» – «Es gibt dort Unfälle. Mit Wildtieren.» – «Mit Rehen?» – «Nein, mein Kind.» – «Mit Gemsen?» – «Nein, Liebes.» – «Mit Hirschen?» – «Kind, es sind die Wölfe …» – «Dann müssen wir keine Angst haben, Mutter. Wir haben in der Schule gelernt, dass sich die Wölfe vor den Menschen fürchten. Sie gehen ihnen aus dem Weg und sind nur in der Nacht aktiv!»
Ehrlicher wäre: «Wir haben uns geirrt»
In der Verkürzung wird die Absurdität – wenn nicht Boshaftigkeit – der argumentativen Kette offensichtlich. Erst heisst es, es gebe keine Zwischenfälle. Gibt es sie doch, heisst es, Zwischenfälle seien selten. Sind sie nicht mehr selten, heisst es, Zwischenfälle seien vermeidbar. Sind sie nicht mehr vermeidbar, heisst es, man müsse sich in das Unvermeidliche schicken. Wollen die Leute sich nicht darin schicken, heisst es, sie müssten ihr Verhalten ändern. Und wenn sie das nicht wollen, so zwingt man sie dazu. Widersetzen sie sich, sind sie das Problem, und der Ruf nach «Massnahmen» wird laut.
Ehrlicher wäre es, einmal zu sagen: «Wir haben uns geirrt.» Oder gar: «Unser derzeitiger Kenntnisstand ist unzureichend.» Man kann sich aber auch auf einige von offiziellen Stellen abgesegnete «Reports» berufen und die Sorgen der Bevölkerung als irrational hinstellen. Ersteres wäre Wissenschaft. Letzteres ist Aktivismus von oben.
