Im Kanton Glarus näherte sich Ende Januar ein Wolf einem spielenden Kind bis auf wenige Meter. Mit Schreien, Rufen und Präsenzmarkieren vertrieben die anwesenden Erwachsenen das Tier. Es handelte sich dabei nicht um die erste Sichtung dieses Wolfs in Dorfnähe.

Die Glarner Behörden reagierten umgehend: Sie stuften das Verhalten des Tiers als problematisch ein und erliessen eine Abschussverfügung. Am 4. Februar setzte die Glarner Wildhut diese um und schoss den Wolf ab.

Eine ähnliche Begegnung zwischen einem Wolf und einem Mädchen geschah am 16. Juli 2024 in der niederländischen Provinz Utrecht. Das Mädchen war mit einer Spielgruppe in einem Naturpark, als sich plötzlich von hinten ein Wolf näherte und es in die Seite biss. Laut Berichten des Lokalfernsehens RTV Utrecht kam es in der Region im letzten Herbst zu mehreren Zwischenfällen und Begegnungen von Wölfen mit Jugendlichen auf ihrem Schulweg.

Begegnung Wolf und Kind

Abo Analyse Rotkäppchen darf nicht mehr alleine in den Wald Thursday, 13. February 2025 Gerade solche Begegnungen – Wolf und Kind oder Wolf und Jugendliche – lösen bei Menschen und der Bevölkerung Ängste aus. Die Fragen, die man sich stellt, lauten: Ist diese Angst begründet?, Geht vom Wolf eine Gefahr für Kinder aus? Oder: Dürfen in Zukunft meine Kinder nicht mehr allein in der Natur unterwegs sein?

«Ja», sagen die Gegner des Wolfs. Sie verweisen häufig auf persönliche negative Erfahrungen wie die Wolfsbegegnung von Elm oder die Zwischenfälle auf der Alp Halde.

«Nein», sagen die Befürworter des Wolfs wie etwa die Gruppe Wolf Schweiz (GWS). Laut GWS ist der Mensch grundsätzlich nicht durch den Wolf gefährdet, weil er nicht in das Beuteschema des Wolfs passt.

Wolfsbegegnungen, Nutztierrisse oder einfach der aktuelle Stand der Rudel lösen in der Schweizer Bevölkerung Diskussionen aus; die Meinungen der Befürworter und Gegner liegen dabei häufig weit auseinander. Beide Seiten begründen ihre Position mit Argumenten:

Das sagen die Gegner

Die Wolfsgegner begründen ihre Abneigung mit wirtschaftlichen, sicherheitsrelevanten und gesellschaftlichen Bedenken sowie emotionalen Argumenten.

Wirtschaftliche Argumente: Im Jahr 2024 rissen Wölfe in der Schweiz laut offiziellen Angaben etwas mehr als 1000 Nutztiere. Tierhalter erhalten für ein gerissenes Tier eine Entschädigung. Bei wiederholten Rissen ohne angemessene Schutzmassnahmen kann diese gekürzt werden. In Gebieten mit Wolfspräsenz müssen die Tierhalter folglich Zeit und Geld für Schutzmassnahmen wie Schutzhunde, Elektrozäune und Personal wie Hirten aufwenden.

Sicherheitsbedenken: Die Anwesenheit von und Begegnungen mit einem Raubtier lösen im Menschen Angst aus. Es gibt beglaubigte Berichte, wonach Wölfe Menschen angreifen. Valerius Geist, ein Wildtierbiologe aus Kanada, spricht hierbei von sieben Eskalationsstufen. In der ersten Stufe rücken Wölfe näher an die «Zivilisation» heran, in der siebten Stufe greifen sie den Menschen an.

Gesellschaftliche Argumente: Mit neun Millionen Einwohnern und einer Bevölkerungsdichte von 220 Personen pro Quadratkilometer gehört die Schweiz zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas. Obwohl sich der grösste Teil der Bevölkerung im Mittelland konzentriert, gibt es in den Bergen, abgesehen vom Schweizer Nationalpark, kaum unberührte Wildnisgebiete. Wanderer, Biker, Natur- und Erholungsuchende nutzen die Natur zudem stark. Konflikte mit dem Wolf und mit Herdenschutzhunden scheinen darum vorherbestimmt.

Emotionale Argumente: Tierhalter sorgen für ihre Tiere, Wolfsangriffe hinterlassen Kadaver oder schwer verletzte bzw. verstörte Tiere. Die emotionale Belastung durch Angriffe bleibt häufig einfach auf den Schultern der Tierhalter liegen.

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Das sagen die Befürworter

Für die Befürworter des Wolfs überwiegen ökologische, wirtschaftliche und ethische Argumente:

Ökologische Argumente: Naturschutzorganisationen wie Pro Natura sehen den Wolf als «Chance für die Natur». So helfen Wölfe mit der Bejagung von Hirschen, Rehen und Wildschweinen, die Wildtierbestände tief zu halten. Auch verjüngen sie die Wildtierbestände, weil sie bevorzugt auf schwache, kranke und alte Tiere ansetzen. Durch die Bejagung ändern Wildtiere zudem ihr Verhalten. Sie bleiben weniger lange an einem Ort und verursachen so weniger Verbiss an Jungbäumen. Laut Pro Natura beobachten Förster im Bündnerland, dass die Waldverjüngung von der Anwesenheit des Wolfs profitiert hat und es zum Beispiel weniger Verbiss an Weisstannen, Vogelbeeren und Ahorn gab.

Wirtschaftliche Argumente: Weniger Verbiss bedeutet entsprechend weniger Schäden und tiefere Kosten. Laut Pro Natura profitieren im Berggebiet gerade Schutzwälder von der Wolfspräsenz, wodurch Millionen an Wildschutzmassnahmen und Verbauungen eingespart werden können. Auch der Tourismus kann profitieren: Laut der Sendung «Schweiz aktuell» vom 12. Oktober 2021 gibt es einige Anbieter von Wolfstouren, die geleitete Wanderungen auf den Spuren des Wolfs anbieten.

Ethische Argumente: Als einheimische Tierart gehört der Wolf laut den Befürwortern zur Schweizer Natur. So spricht zum Beispiel die Umweltschutzorganisation WWF von einer «Rückkehr in die ursprünglichen Lebensräume». Auch hebt WWF den Charakter des Wolfs hervor. So sei das Tier ein «sozialer Räuber, der Platz in der Natur und in unseren Köpfen braucht». Die Umweltschutzorganisation setzt sich für ein friedliches Nebeneinander von Menschen und Grossraubtieren ein und legt den Fokus ihrer Arbeit auf den Schutz der sömmernden Schafe und Ziegen.

Das sagt die Forschung

Beide Seiten ziehen also mit unterschiedlichen Argumenten für oder gegen den Wolf «ins Feld».

Bei der Frage nach dem Gefahrenpotenzial des Wolfs liegen die Meinungen der Gegner und der Befürworter weit auseinander. Während Gegner häufig über Erlebnisse oder ihre subjektiven Erfahrungen berichten, verweisen Befürworter auf wissenschaftliche Studien.

Eine der am meisten zitierten Studien zum Thema Wolfsangriffe auf den Menschen ist die im Jahr 2002 vom Norwegischen Naturforschungsinstitut (Nina) durchgeführte Nina-Studie. Diese Forschungsarbeit wurde im Jahr 2021 aktualisiert.

Ziel der Nina-Studie war es, sämtliche existierenden Berichte über Wolfsangriffe auf Menschen aus Skandinavien, Kontinentaleuropa, Asien und Nordamerika zusammenzutragen und nach Mustern in den Fällen zu suchen. In der ersten Studie untersuchten die Forscher 1600 Berichte über Wolfsangriffe, der älteste stammt aus dem Jahr 1557 (Deutschland), der jüngste aus dem Jahr 2000. In der aktualisierten Studie untersuchten die Forschenden 489 dokumentierte Wolfsangriffe, die weltweit zwischen 2002 und 2020 erfolgten. Die Fachleute ordneten die Wolfsangriffe in drei Kategorien.

Angriff durch tollwütige Wölfe: Der grösste Teil der Angriffe erfolgte durch einen tollwütigen Wolf. Obwohl Wölfe nicht als Wirt für das Virus dienen, können sie von anderen Tieren angesteckt werden, wobei sie laut den Forschern eine aussergewöhnlich heftige Wutphase erleiden. Laut dem Bundesamt für Gesundheit sind die Schweiz und die meisten Länder der europäischen Union tollwutfrei.

Defensive/provozierte Angriffe: In einigen Fällen griffen Wölfe, die in Gefangenschaft geraten oder durch Jagd in die Ecke getrieben worden waren, den Menschen an.

Räuberische Angriffe: In diese Kategorie fielen Wolfsangriffe, die ohne Krankheit oder Provokation durch den Menschen erfolgten. Laut den Studienautoren erfolgte ein grosser Teil dieser Angriffe in «künstlichen» Lebensräumen, also Lebensräumen, die wenig oder keine natürliche Beute boten und wo die Wölfe sich mehrheitlich von Müllhalden oder Haustieren ernährten.

Gefahr gering, aber nicht null

In ihrer Studie kamen die Autor(innen) zu folgendem Schluss: Das Risiko, das von wild lebenden Wölfen ausgeht, ist äusserst gering. Es liegt aber nicht bei null. Die meisten Wolfsangriffe erfolgten durch tollwütige Wölfe. Die meisten Individuen sind für den Menschen nicht gefährlich, es gibt aber ein gewisses Risiko durch Wölfe, die sich an den Menschen gewöhnen. In seltenen Fällen kommt es laut der Studie zu unvorhersehbaren und unbegründeten räuberischen Angriffen, meistens greift ein Wolf dann Kinder an.

Die Gefahr, die vom Wolf ausgeht, ist also sehr gering, aber real. Der Umgang der Schweizer Behörden mit dem Wolf berücksichtigt dies. Grundlage sind hierbei die Gesetzgebung sowie die Vollzugshilfe des Bafu zum Wolfsmanagement, das «Konzept Wolf Schweiz». Sie legt die Grundlage für den Umgang mit dem Wolf. Basierend auf dem Verhalten, teilt sie das Tier in die Kategorien «unbedenklich», «auffällig», «unerwünscht» und «problematisch» ein. Zeigt ein Wolf wie in Elm problematisches Verhalten (mehrmaliges Auftauchen während Aktivitätszeit in einer Siedlung, Annäherung an Menschen, lässt sich schwer vertreiben), wird er zum Abschuss freigegeben.

Nicht unbeaufsichtigt lassen

Handlungsempfehlungen für Eltern stehen keine im «Konzept Wolf Schweiz». Auch auf Websites oder in Dokumenten von Natur- und Umweltschutzorganisationen findet man mehrheitlich allgemeine Empfehlungen zum Umgang bei einer Begegnung. Laut einem Merkblatt der Stiftung Kora für Raubtierökologie und Wildtiermanagement soll man bei einer Wolfsbegegnung ruhig stehen bleiben, sich bei einer Annäherung des Wolfs durch Klatschen oder Rufen bemerkbar machen und sich gross machen und laut werden.

Weiter gehen die Empfehlungen der Natur- und Umweltschutzorganisation WWF Austria. Um «Unfälle» mit Wildtieren zu vermeiden, solle man kleinere Kinder nicht ohne Aufsicht im Wald spielen lassen. Einen ähnlichen Ratschlag gaben im Übrigen die niederländischen Behörden ab. Nach dem Wolfsbiss und den Begegnungen rieten Sie davon ab, Kinder allein in ein Waldgebiet zu lassen.