Der Anbindestall geniesst keinen guten Ruf. Kühe anzubinden, sei nicht artgerecht, so die Kritik. Der Schweizer Tierschutz (STS) bemängelt etwa, die Tiere hätten im Stall zu wenig Bewegung und zu wenig Gelegenheit für den sozialen Austausch mit den Artgenossinnen. Die Befürworter der traditionellen Anbindehaltung sind rar geworden. Auch wenn man von Tierhaltern nicht selten hört, dass sie im Laufstall lieber keine Kühe mit Hörnern haben – «sie plagen sich» –, die öffentliche Meinung ist gemacht.
Dabei hatten die Gegner des Anbindestalls ein leichtes Spiel. Jedem funktionierenden Mitglied einer modernen Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft leuchtet natürlich sofort ein, dass es wichtig ist, immer in Bewegung zu bleiben und nie allein zu sein. Man kennt das aus dem Grossraumbüro. Der Mensch schliesst eben gern von sich auf andere. Ob es nun Menschen aus anderen Lebensumständen oder Tiere sind: Ohne lange darüber nachzudenken, ist uns klar, dass sie insgeheim genau das wollen, was wir uns für uns selber wünschen. Und was das ist, sehen wir in der Werbung: Immerhin werden hier Milliarden dafür eingesetzt, mit wissenschaftlicher Präzision herauszufinden, was unsere tiefsten Bedürfnisse sind. Auf den Bildschirmen und Plakatwänden ist das Leben ein Abenteuer und jeder Augenblick eine Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren.
Die Freiheit gehörte jenen, die sie sich nehmen – können
Die Reise, die Party, das Date als Vorstellungen einer Freiheit – nur manchmal, oft dann, wenn einer allein ist und Langeweile hat, wächst die Leere und mit ihr eine (un)heimliche Sehnsucht nach Ruhe und Stillstand. Wer es sich leisten kann, bucht sich dann vielleicht einen «Retreat» in die Wildnis, auf eine ferne Insel oder in ein buddhistisches Kloster. Dort kann man eine Zeit lang üben, wie es wäre, immer am gleichen Ort zu sein, sich nicht zu bewegen, keinen Kontakt mit der Welt da draussen zu haben. Ein bisschen wie jemand, der nichts weiss von der grossen Freiheit und ganz gern angebunden ist an seinen kleinen Ort, der ihm sein ganzes Leben ist.
Nie, so könnte man meinen, lebten wir freier als heute. Ob Partnerschaft, Beruf oder Wohnort: Alles ist frei wählbar – es sei denn, jemand ist schneller. Wo alle alles wählen dürfen, schläft die Konkurrenz nie. Kein Wunder, haben junge Eltern lieber «selbstbewusste» statt «brave»Kinder. Die Freiheit gehört jenen, die sie sich nehmen – können.
Das philosophische Fundament der Ellenbogengesellschaft
Diese Art von Freiheit begegnet uns durchaus auch in der Tierwelt. Die Ökologen sprechen dann von «Störungen». Ein Beispiel für eine solche Störung wäre etwa ein Wolfsrudel, dem das Leittier weggeschossen wurde. Die verbliebenen jüngeren Wölfe verhalten sich dann recht ähnlich wie der moderne Mensch: Sie suchen kreativ nach neuen Wegen, entwickeln Ehrgeiz, wollen sich durchsetzen. Es ist kein schöner Anblick.
Was bedeutet uns Freiheit? Dass jeder die gleichen Chancen hat, die Welt und die anderen zu erkunden und dabei seine eigenen Neigungen zu entdecken und auszuleben? Das wäre die Freiheit als Ungebundenheit, als Absolutheit, des Einzelnen. Wo das Einzelne absolut ist, bedroht jedes Andere potenziell das Absolute – und wird damit zur absoluten Bedrohung. Soweit das philosophische Fundament der Ellbogengesellschaft. Doch zurück in den Stall.
Im Laufstall war sie unglücklich und verloren
Saskia Möller hat zwei Herden beobachtet, eine aus Anbindehaltung, die andere aus dem Laufstall. Die angebundenen Kühe zeigten auf der Weide ein intensiveres Sozialverhalten: Sie lecken und hornen häufiger und länger und das auch mit Tieren, mit denen sie im Stall kaum Kontakt haben. Die naheliegende Begründung: «Nachholbedarf». Mir käme da aber noch eine andere Hypothese in den Sinn: Gerade, weil sich die Tiere nicht ständig behaupten müssen, sind sie im Umgang sozialer miteinander. Ich erinnere mich an die Geschichte von einer Kuh, die aus dem Anbindestall in den Laufstall kam. Unglücklich und verloren sei sie gewesen, immer habe sie ihren Platz gesucht und keinen gefunden.
Leute, die mehr wissen als ich – und wohl auch als die betroffene Kuh selbst –, können darin einen Beweis für mangelnde Sozialisierung sehen. Hätte die Kuh von Anfang an gelernt, selbstsicher und proaktiv ihren Platz in der Herde einzunehmen, wäre es ihr besser gegangen. Das Argument mag stimmen – oder nicht. Sicher sagt es etwas aus über die Gesellschaft, in der es verfängt.
