Die Alpen sind bestossen und es kursieren wieder Bilder und Videos, deren Anblick kaum auszuhalten ist. Schafe und Ziegen überleben Wolfsattacken zum Teil schwer verletzt. Es ist das eine, sich angesichts von Fotos den Schmerz dieser Nutztiere auszumalen – für Älpler(innen) ist es nicht selten traumatisch, ihre Schützlinge so zugerichtet zu sehen. Aber warum kommt es überhaupt so weit, dass ein unbestreitbar intelligentes Raubtier wie der Wolf scheinbar wahllos um sich beisst? Zumal er dieses Verhalten bei Rehen und Hirschen nicht zu zeigen scheint.
Nutz- versus Wildtiere
«Der Unterschied im Verhalten bei einem Angriff auf eine Gruppe von Wild- und Nutztieren liegt nicht aufseiten des Wolfs», sagt Nicole Bosshard von der Stiftung Kora. Diese Stiftung befasst sich mit Raubtierökologie sowie Wildtiermanagement und überwacht zum Beispiel auch die Wolfsbestände in der Schweiz. Es seien die Beutetiere, die bei einem Wolfsangriff anders reagierten, fährt Bosshard fort: «Die Reflexe und Fluchtmöglichkeiten sind bei einem wilden Tier grösser.»
Schafe hätten beispielsweise nicht unbedingt den Reflex, sich zu verteilen und zu fliehen, sondern suchten Schutz in der Herde. «Sie können auch nicht immer fliehen, wenn sie etwa durch Zäune daran gehindert werden», ist sich Nicole Bosshard bewusst. In einer solchen Situation werde der Tötungstrieb des Wolfs wiederholt ausgelöst und es könne dazu kommen, dass die Grossraubtiere mehr Tiere töten, als sie fressen können. Oder es werden Beutetiere verletzt und nicht vollständig getötet.
«Unterschied liegt nicht aufseiten Wolf.»
Nicole Bosshard, Kora, über Wolfsattacken auf Wild- und Nutztiere.
Ohne Menschen auch tagaktiv
Wenn sich Wölfe tagsüber zeigen, sorgt das regelmässig für Schlagzeilen. «Beobachtungen von tagaktiven Wölfen sind aber kein Hinweis auf problematisches Verhalten», schreibt die Gruppe Wolf Schweiz (GWS) in ihrem letzten Newsletter. Sie bezieht sich auf eine kürzlich veröffentlichte Studie mit Daten aus Fotofallen an neun Standorten in Europa.
Untersucht wurde der Unterschied im Verhalten von Wölfen und Luchsen, je nachdem, wie stark die Grossraubtiere menschlichen Störungen ausgesetzt waren. Die Autoren haben festgestellt, dass Wölfe ihre Aktivität eher in die Nacht verschieben, wenn sie häufiger von Spaziergängern oder Ähnlichem gestört werden. «Demnach sind Wölfe von Natur aus auch tagsüber aktiv», schlussfolgert die GWS. Erst der Mensch dränge sie in die Nacht.
Luchse blieben mit und ohne menschliche Störungen nachtaktiv, was die Studienautoren auf deren Hauptjagdstrategie des Anpirschens und Auflauerns zurückführen.
Für das ganze Rudel
«In der freien Wildbahn kommt dieses Verhalten sehr selten vor», erklärt Nicole Bosshard. Das könne beispielsweise passieren, wenn eine Herde wilder Huftiere im hohen Schnee eingeschlossen sei und nicht die Flucht ergreifen könne. Mehrere Beutetiere auf einmal zu erlegen, ergibt für den Wolf als soziales Raubtier aber durchaus Sinn, hält die Kommunikationsverantwortliche fest. Zumal sich Wölfe auch von Aas ernähren. «Ein Wolf tötet für das ganze Rudel und kann einen Kadaver auch später noch nutzen, wenn sich kein neues Jagdglück einstellt.»
Von Katzenartigen wie Löwen, Geparden oder auch Luchsen ist bekannt, dass sie ihre Beute mit einem gezielten Biss in die Kehle töten (siehe auch Kasten unten). Laut Kora werden kleine und mittelgrosse wilde Beutetiere auch beim Wolf durch einen Kehlbiss erlegt. Grössere könnten Wölfe aber auch zunächst an den Hinterläufen packen. Das könne auch bei Nutztieren vorkommen. «Muskeln und Bänder werden zerrissen, um die Flucht zu stoppen», beschreibt Nicole Bosshard das Vorgehen. Raubtiere sind allerdings offenbar generell nicht immer so effizient und schnell, wie man es denken könnte (oder möchte): «Wenn ein Wildtier ein anderes Tier tötet, kann das eine gewisse Zeit dauern und funktioniert nicht immer gleich», gibt die Kora-Sprecherin zu bedenken. «Die Beutetiere wehren sich ebenfalls.»
Domestikation als Ursache
Einen Grund für zumindest teilweise fehlendes Fluchtverhalten und ungenügende Verteidigungsreflexe bei Schafen oder Ziegen sieht man bei Kora in der Domestizierung. Dies und der Schutz von Herden hätten dazu geführt, dass heutige Nutztiere anders auf einen Wolfsangriff reagieren als Wildtiere.
Wenn Wölfe in einer Schaf- oder Ziegenherde wüten, handelt es sich demnach um eine Art «Töten auf Vorrat» – wobei die eigentliche Tötung nicht immer vollzogen wird und eben verletzte Tiere zurückbleiben. «Wölfe werden regelmässig durch menschliche Aktivitäten gestört und verschwinden manchmal, bevor sie das Tier fertig getötet haben», schildert Nicole Bosshard. Blieben sie hingegen ungestört, würden sie gemäss Kora zurückkehren und alles bis zum Ende fressen. Vorausgesetzt, die Kadaver bleiben an Ort und Stelle. «Es ist allerdings nicht wünschenswert, dass Wölfe sich längere Zeit auf einer Alp aufhalten und dort Nutztiere fressen», bemerkt Bosshard. Daher – und aus Gründen der Hygiene – entfernt man berechtigterweise allfällige Risse.
Das nach menschlichen Massstäben grausame Verhalten von Wölfen lässt Interpretationsspielraum und gemahnt nicht selten an boshafte Märchengestalten. Zum eigentlichen Beweggrund hinter Attacken hält die Stiftung Kora aber fest: «Ein Angriff auf ein Nutztier wird als ein Angriff zur Nahrungsbeschaffung angesehen.»
Wolf und Luchs – grundverschiedene Grossraubtiere
In der Schweiz gibt es laut den Schätzungen der Stiftung Kora annähernd gleich viele Luchse wie Wölfe. Für 2021 wird der Bestand hierzulande mit knapp 300 Luchsen angegeben. Und obwohl die Luchspopulation in der Schweiz bereits vor 14 Jahren die 100er-Marke überschritten hat, sind Luchsrisse ein Randthema. Denn die beiden Grossraubtiere verhalten sich sehr unterschiedlich.
Nachtaktiv im Wald
Luchse werden als grundsätzliche Waldbewohner beschrieben, die einen Lebensraum mit vielen Deckungsmöglichkeiten brauchen. Ausserdem seien sie hauptsächlich nachtaktiv und bis auf Weibchen mit ihren Jungtieren einzelgängerisch, schreibt Kora.
«Der eurasische Luchs ist ein Jäger kleiner Paarhufer», heisst es weiter. Der Hauptanteil der Beutetiere seien Rehe und Gämsen, hinzu kommen Hasen, Füchse und Murmeltiere. Während Wölfe zu den Hundeartigen gehörten, Hetzjäger und Opportunisten seien, handle es sich bei Luchsen um Anschleich- und Überraschungsjäger. Beute werde nach einem Angriff nicht verfolgt. «Er greift das Opfer mit den Krallen der Vorderpranken und tötet es mit einem gezielten Biss in die Kehle», beschreibt Kora die Angriffsstrategie eines Luchses. Ein Reh oder eine Gämse werde während mehrerer Nächte vollständig verzehrt. Übrig blieben lediglich die groben Knochen, Kopf, Fell und Verdauungstrakt. Mit einem Beutetier pro Woche belaufe sich der Nahrungsbedarf eines Luchses auf rund 50–60 Rehe oder Gämsen pro Jahr.
50 Risse jährlich
Wie beim Wolf werden nachweislich von Luchsen gerissene Nutztiere durch Bund und Kantone entschädigt. Die Unterschiede im Verhalten schlagen sich in den Rissstatistiken beider Arten nieder: Während pro Jahr nach Angaben von Kora etwa 50 Luchsrisse registriert werden, gab es 2023 991 Risse, die aufs Konto eines Wolfs gingen.

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