Es ist fünf nach zwölf. Dieser Satz des Schweizer Klimaforschers Martin Grosjean hallt auch nach zwei Wochen noch in meinem Kopf nach. Grosjean sagte ihn an einem Podium am Plantahof, wo am 30. Oktoberder erste Klimagipfel Graubünden stattfand – just an dem Tag also, an dem im schottischen Glasgow die Welt-Klimakonferenz startete.
Ja, wenn es schon zu spät ist, den Klimawandel zu stoppen, warum sollen wir denn noch etwas tun, wird sich der eine oder andere jetzt fragen. Dass etwas passieren muss, ist allen klar. Nur, wer soll den ersten Schritt machen? Die Politik, die Landwirtschaft, der Detailhandel, der Konsument? Wenn es nach Martin Grosjean geht, am besten gleich alle zusammen. «Es gilt das Prinzip ‹first mover advantage›: Wer den ersten Schritt macht, ist im Vorteil», sagte Grosjean am Podium.
Radikales Umdenken in der Landwirtschaft
Graubünden will diesen ersten Schritt machen und hat vor einem Jahr das Projekt klimaneutrale Landwirtschaft gestartet. 50 Betriebe sind in der Pilotphase dabei, die bis 2025 dauert. Die Bündner Politiker werden an öffentlichen Veranstaltungen auch nicht müde, den Vorbild-Charakter Graubündens hervorzuheben. Erst mit der biologischen Landwirtschaft und jetzt mit der Klimaneutralität. Das tönt super, erfordert aber ein radikales Umdenken.
Ein Paradebeispiel dazu gab es diesen Frühsommer: Während die Politikerinnen in Bern über das Schleppschlauch-Obligatorium debattierten, predigten zwei Humuswissenschaftler in Cazis, dass die Landwirtschaft ganz aus der klimaschädlichen Güllewirtschaft aussteigen müsse – wohlgemerkt mit der Betonung darauf, dass diese Umstellung nicht von heute auf morgen passieren kann. Aber jemand muss ja den ersten Schritt machen.
Ringen um verbindliche Beschlüsse in Glasgow
Verlassen wir den Schauplatz Schweiz und werfen einen Blick nach Glasgow, wo am 12. November 2021 die 26. Klimakonferenz zu Ende ging. Vertreter(innen) von 200 Staaten debattierten zwei Wochen lang über die globale Klimakrise. Franz Perrez, Delegationsleiter der Schweiz an der Klimakonferenz, gab sich am Montag in der Radiosendung «Tagesgespräch» von «SRF» vorsichtig optimistisch.
Es liege im Bereich des Möglichen, dass man in den drei Bereichen (Gradmessern) Markt, Transparenz und Finanzierung ein gutes Ergebnis erziele. «Ob wir damit das 1,5-Grad-Ziel erreichen können, hängt letztendlich nicht von der Konferenz oder der Abschlusserklärung ab, sondern davon, welche Massnahmen in den einzelnen Ländern ergriffen, geplant und umgesetzt werden.» Kurzgesagt: Selbst wenn in der Abschlusserklärung verbindliche Beschlüsse gefasst werden, bedeutet das nicht, dass diese auch umgesetzt werden. Und wieder stellt sich die Frage: Wer (welches Land) macht den ersten Schritt?
Klimaschutz beginnt bei jedem einzelnen
In der Diskussion um die Klimaerwärmung wird die Landwirtschaft häufig als Klimasünderin schlechthin dargestellt. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Landwirtschaft trägt mit 17 bis32 Prozent erheblich zu dem von Menschen verursachten Klimawandel bei. Es ist aber nicht so, dass sich die Bäuerinnen und Bauern der Klimadiskussion verschliessen, denn sie wissen um den Handlungsbedarf. Die Landwirtschaft bewegt sich sehr wohl, um der Klimakrise entgegenzuwirken. Aber die Konsument(innen) müssen sich ebenfalls bewegen und Nachhaltigkeit und Regionalität auch im Laden und nicht nur auf dem Stimmzettel wählen. Und wieder die Frage: Wer macht den ersten Schritt?
Mit dem Finger auf den anderen zu zeigen, ist keine Lösung. Denn damit lässt sich der Klimawandel nicht verlangsamen. Jede und jeder von uns muss einen Beitrag leisten. Und sind wir mal ehrlich: Spontan kommt sicher jedem und jeder mindestens eine Sache in den Sinn, mit der er oder sie etwas fürs Klima tun könnte.
Wunschdenken oder schon bald Realität?
Vor meinem inneren Auge stelle ich mir eine Euphorie-Welle, sich für den Klimaschutz zu engagieren, vor, die klein beginnt und immer grösser wird. Wobei so wirklich vorstellen kann ich mir das dann doch nicht. Ist der Kampf gegen den Klimawandel also nur Utopie? Ist eine klimaneutrale Landwirtschaft blosses Wunschdenken? Vielleicht löst das Bündner Projekt ja wirklich eine kleine Revolution in der Landwirtschaft aus, zumindest in der Schweizer Landwirtschaft.


