Dreimal erklingt der Gong. Die sieben Frauen und zwei Männer der Gruppe falten die Hände und verneigen sich zur Mitte. Die einen sitzen auf einem Meditationshocker aus Holz, andere auf runden Kissen. Die linke Hand liegt in der rechten, die Daumenspitzen berühren sich. Im 45-Grad-Winkel neigt sich der Blick auf die Reismatte am Boden.
Das Ziel: nichts tun, nichts denken. Nur atmen. In sich gehen. Schweigen. Bis Claudia Nothelfer nach rund 45 Minuten mit zwei Gongschlägen den Wechsel von der Sitz- in die Gehmeditation ankündigt. Regelmässig führt die 58-jährige Kontemplationslehrerin aus Boniswil im Aargau an verschiedenen Orten und in der Propstei Wislikofen Menschen in die Meditation ein und bringt ihnen so die Kraft des Schweigens näher.
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Sitzen, schweigen und meditieren. Für die studierte Theologin aus Ravensburg (D) ist dies seit über 30 Jahren ein fester Bestandteil ihres Lebens. Sie entdeckte die Meditation bereits als Jugendliche. «Nach einer Gruppenmeditation mit hundert anderen Jugendlichen zog es mir den Ärmel rein.» Claudia Nothelfer, die für die Aargauische Landeskirche, Abteilung Bildung und Propstei, Meditationsseminare und Schweigewochenende durchführt, liess sich 1994 von der Zen-Meisterin Pia Giger in die Kunst der Meditation einführen. Später absolvierte sie die Kontemplationsschule Via Integralis.
Im Schweigen zu sich selber finden
Jeden Tag meditiert Claudia Nothelfer um sieben Uhr morgens sowie abends um 19 Uhr jeweils während 30 bis 50 Minuten. Was fasziniert sie an der Zen-Meditation, wo das Schweigen und die Innenschau eine zentrale Rolle spielen? «Mein Gehirn, meine Gedanken kommen in der Stille, im Schweigen zur Ruhe. Ich bin ganz bei mir, im Hier und Jetzt, und spüre, wie sich ein Frieden ausbreitet – egal, was mich an der Oberfläche des Lebens so alles bewegt.»
Schweigen und Spiritualität
Alle spirituellen und religiösen Traditionen messen der Stille und dem Schweigen eine besondere Bedeutung zu, sei es im Christentum, Islam, Hinduismus oder in den buddhistischen Traditionen.
Die Stille gilt dabei als Ursprung allen Seins, in ihr wächst Lebendigkeit. In verschiedenen Ordensgemeinschaften ist das Schweigen mit drei Bedeutungen verbunden: Zum einen ist es ein Weg zur ehrlichen Selbstbegegnung. Das Loslassen ist der zweite Aspekt des Schweigens. Wer immer wieder über etwas spricht, wühlt die Gefühle stets von neuem auf.
Die dritte Bedeutung ist das Einswerden mit dem Göttlichen. Das Schweigen soll helfen, die Seelen zu öffnen. Zudem gilt es als eine Möglichkeit der Fortentwicklung und Reifung. Nicht zuletzt verbessert regelmässiges Schweigen die Konzentrationsfähigkeit.
Wie wertvoll diese Innenschau ist, durfte Claudia Nothelfer zum Beispiel erfahren, als sie nach einer Operation im Spital liegen musste. Während sich andere Patientinnen mit Handy und TV ablenkten, fand sie in der Schweigemeditation Ruhe. «Das Meditieren brachte mir tiefe Einsichten zum Leben. Mir wurde klar, wie fliessend die Grenzen zwischen dem Dies- und Jenseits sind.» Meditieren und schweigen bedeute für sie, Spiritualität zu leben und Gott zu erfahren.
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Claudia Nothelfer erlebt das bewusste Schweigen als einen heilsamen, wohltuenden Prozess, bei dem der Körper schnell in den so genannten Alpha-Zustand kommt. Dieser liegt zwischen Tagesbewusstsein und Traum. Es handelt sich dabei um einen entspannten Wahrnehmungszustand, in dem das Gehirn ganzheitlicher und vernetzter arbeitet als im oft hektischen Alltag; bewusste und unbewusste Gehirnfunktionen sind dabei eher miteinander verbunden. «In diesem Zustand ordnen sich viele Dinge wie neu», stellt die Meditationslehrerin immer wieder fest.
Dazu gehören zum Beispiel auch gewisse Verhaltensmuster, Vorurteile oder negative Gedanken, aus denen man durch das Schweigen aussteigen kann. Inmitten einer lauten und lärmigen Welt sei es zudem wichtig, im Schweigen einen Gegenpol zu schaffen.
Am Anfang kann es anstrengend sein
Einfach schweigen – das ist leichter gesagt als getan. Für Menschen, die sich neu mit der Schweigemeditation beschäftigen, bedeutet das regungslose Sitzen und Schweigen besonders am Anfang eine Herausforderung, da die Konzentrationsfähigkeit stark beansprucht wird. «Es ist für manche auch nicht leicht, mit sich allein zu sein», sagt Claudia Nothelfer, die am Anfang ihrer Meditationskarriere ähnliche Erfahrungen gemacht hat. So habe es Phasen gegeben, in denen manch anderes wichtiger war als die Meditation; sie hielt den täglichen Meditationsrhythmus nicht ein. «Es braucht einen langen Atem.»
«Plötzlich spürt man, wie einem die Meditation gut tut.»
Claudia Nothelfer
Wie lange es dauert, bis das Sitzen und Schweigen zu einem festen Bestandteil im Alltag und verinnerlicht geworden sind, sei von Person zu Person unterschiedlich. «Plötzlich spürt man, wie einem die Meditation guttut und man nicht mehr darauf verzichten möchte.» Mit der Zeit lernt man, nicht nur zu Hause, sondern auch andernorts für eine gewisse Zeit in die Stille zu gehen und Kraft zu tanken.
Einsteigen mit Anleitung
Wie findet man den Einstieg in die Meditation? Claudia Nothelfer, die sich auf die gegenstandslose christliche Kontemplation konzentriert, empfiehlt, einen Einstiegskurs zu besuchen, um das nötige Rüstzeug für die Anwendung zu Hause zu erhalten. Die einen bevorzugen die Meditation alleine in der vertrauten Umgebung, andere fühlen sich beim Meditieren in einer Gruppe wohler. In beiden Fällen werden regelmässige Auffrischungskurse ein- bis zweimal im Jahr empfohlen. Damit das tägliche Meditieren zur Gewohnheit wird, sollte man sich zum Beispiel am Morgen nach dem Aufstehen oder am Abend vor dem Schlafen ein Zeitfenster reservieren. Sonst braucht es wenig: Ein ruhiger Ort sowie ein Sitzkissen, einen Hocker oder Stuhl.
Weitere Informationen: www.propstei.ch
Wie mit Meditieren beginnen?
Für eine Sitzmeditation braucht es nur ein Sitzkissen oder einen Schemel oder Stuhl ohne Rückenlehne. Am besten, Sie richten sich dafür einen speziellen, ruhigen Platz ein. Schalten Sie das Telefon und andere Störquellen aus.
Setzen Sie sich so, dass beide Füsse Bodenkontakt haben. Neigen Sie den Kopf etwa 45 Grad nach unten. Halten sie die Augen wenn möglich leicht geöffnet.
Gut ist, wenn Sie von Beginn an eine halbe Stunde einplanen. Scheint das noch zu viel, stellen Sie sich zum Einstieg einen Timer auf fünfzehn Minuten.
Versuchen Sie, zur Ruhe zu kommen. Achten Sie nur auf Ihren Atem. Tauchen Gedanken auf, lassen Sie sie vorbeiziehen, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Erwarten Sie nichts. Meist fällt das An-nichts-denken am Anfang schwer. Bleiben Sie dran.
In der Zen-Tradition wird die Sitz- oft mit einer Gehmeditation kombiniert. Das ist eine Art bewusstes Atmen in Kombination mit ruhigen Bewegungsabläufen.
Die Gehmeditation setzt sich aus vier Teilen zusammen: Achtsamkeit, Gehen, Atmen und Lächeln. Beim bewussten, langsamen Gehen wird die Aufmerksamkeit auf jeden Schritt gelenkt. Wichtig sind ruhige und gleichmässige Atemzüge – zum Beispiel während drei Schritten einatmen und während drei Schritten ausatmen. Ein innerliches Lächeln hilft dem Körper, positive Botenstoffe zu produzieren.
Mehr Infos zu Meditationsformen: www.ich-will-meditieren.de
Zen im Alltag
«Mein Weg zur Stille-Meditation dauerte mehrere Jahre. Die Herausforderung dabei war, dran zu bleiben. Das brauchte Ausdauer, Konsequenz und Hingabe.
Vor fünf Jahren fühlte ich mich ziemlich erschöpft durch meine Rollen als Berufs- und Hausfrau sowie als Partnerin. Das nahm mir die Lebensfreude. Ein Kurs in Kontemplation gab mir zwar einen Energieschub, doch ich setze ich das Gelernte im Alltag zu wenig um.
2016 war ich so erschöpft, dass ich die Handbremse ziehen musste.
Ich plante mehr Zeit für mich ein um regelmässig in der Gruppe zu meditieren. Mein Partner schwärmte schon damals von Zen-Meditation. Doch ich wollte nicht das Gleiche wie er machen. Schliesslich besuchte ich doch einen Einführungskurs.
So richtig Klick machte es dann an einem Zen-Silvester-Retreat.
Heute meditiere ich jeden Morgen, das ist die beste Zeit. Nach dem Aufwachen mache ich erst einen Rundgang durch die Wohnung, dann sitze ich eine halbe Stunde in Stille.
Es geht mir dabei darum, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Auf meinen Atem und nicht auf meine Vorstellungen und Gedankenbilder. Durch die Meditationspraxis lernte ich zu akzeptieren, dass meine Auffassungen nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen.
Manchmal meditiere ich zusätzlich am Abend oder wenn ich ein schwieriges Gespräch hatte. Meditation ist für mich ein machtvolles Instrument, um die Balance zwischen Selbstfürsorge und dem Einsatz für andere zu finden. Es ist wie eine Insel im Alltag.»
Astrid Segui, Edlibach
Schweigend durch die Wüste
«Im vergangenen Jahr buchten mein Mann und ich eine zehntätige «Reise in die Stille» in der südmarokkanischen Wüste. Wir waren zu Fuss oder auf Dromedaren unterwegs und übernachteten in Zelten.
Jeden Morgen vor Sonnenaufgang trafen wir uns schweigend zu einer geführten Meditation.
Nach dem Frühstück las uns die Organisatorin eine Textpassage aus einem Buch von Eckart Tolle vor, als Leitfaden für den Tag. Zudem gab sie uns Tipps, wie wir das Tohuwabohu im Kopf abstellen können. Zum Beispiel, die Gedanken kommen und wieder gehen lassen. Sich nur auf den Atem oder die Füsse konzentrieren. Das Ziel war, völlig im Moment zu sein, ohne sich im Denken zu verlieren. Mit dieser Absicht liefen oder ritten wir den Vormittag schweigend durch die Wüstenlandschaft. Zwei Tage verbrachte zudem jeder ganz allein in einem Umkreis von einem Kilometer rund um den Lagerplatz.
Ich kam gut mit dem Schweigen und dem Alleinsein zurecht. Es war aber nicht alles heiter und einfach. Es kamen auch herausfordernde Gefühle hoch und Tränen flossen, denn mein Mann und ich erlebten eine schwierige Phase in unserer Beziehung. Das konnte ich nicht alles mit mir allein aushandeln und suchte an einem Abend das Gespräch mit der Leiterin.
Die Schweigereise hat mir und auch unsere Beziehung gut getan. Es hilft, die innere Stille zu erleben wenn man bereits in der Stille ist.»
Bernadette Stadelmann, Ringgenberg
Schweigewoche im Berner Oberland
«Ich war bereits mehrmals in einer achttägigen Vipassana-Schweigemeditation auf dem Beatenberg.
Wir waren jeweils an die 60 Leute, und schnell hat sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt. Denn auch mit Schweigen kann man kommunizieren.
Wir begannen den Tag mit Tai Chi. Dann wechselten sich Sitz- und Gehmediationen ab. Dazwischen ass man schweigend zusammen und es gab Ämtli, zum Beispiel Abwaschen. Am Abend erklärten die Leiter in Vorträgen die buddhistische Betrachtungsweise dieser Meditationsform.
Am Anfang eines Retreats stürmen jeweils alle Gedanken auf mich ein. Ich weiss inzwischen: Mein Geist liebt es, zu planen! Das Ziel ist, Emotionen und Gedanken nur distanziert zur Kenntnis nehmen. Sie nicht allzu ernst zu nehmen, denn sie verschwinden wieder. Das gleiche gilt oft auch für Schmerzen im Körper, die beim Stillsitzen auftauchen können.
Die Stille hilft mir, genau hinzuschauen. Wie frei bin ich in meinen Gedanken? Bin ich wirklich in der Gegenwart? Oder hänge ich in der Vergangenheit und plane schon für die Zukunft? Nach Schweige-Retreats bin ich einige Wochen präsenter, gelassener und mitfühlender.»
Andrea Langenegger, Bern