Frischgebackene oder werdende Eltern werden mit grösster Wahrscheinlichkeit über den Begriff «Baby-Led Weaning» (kurz BLW) stolpern. «Mit BLW ist gemeint, dass Babys von Beginn an selbstständig essen und sie nicht gefüttert werden», sagt Familienbegleiterin Nina Kaufmann. Die Mutter eines Sohnes berät Eltern zu den Themen Stillen, Baby- und Kleinkinderschlaf sowie Beikost. Zudem soll das Baby im eigenen Tempo von der Milch (Muttermilch oder PRE) entwöhnt werden.
Von der traditionellen Beikosteinführung mit einem festen Brei-Fahrplan, der Milchmahlzeiten stufenweise ersetzt, nimmt Kaufmann Abstand: «Dieses Konzept ist veraltet und nicht auf die Bedürfnisse der Kleinen angepasst.» Sie spricht in ihren Beratungen immer «von Beikost nach Bedarf» mit dem wichtigen Hinweis, dass es niemals das Ziel sein soll, möglichst schnell Milchmahlzeiten zu ersetzen. «Deswegen heisst es auch Beikost und nicht Anstattkost», betont Kaufmann.
Sie sagen, Sie sind weder Team Brei noch Team BLW, sondern Team «Beikost nach Bedarf». Wie meinen Sie das genau?
Nina Kaufmann: Das bedeutet, dass man die Kleinsten von Beginn an am Familientisch mitessen lässt, sobald das Baby für Beikost bereit ist. Natürlich richtet man die Nahrungsmittel babygerecht her. Sollte es dann aber doch einmal ein Gläschen Brei geben, ist das absolut nicht tragisch und völlig in Ordnung. Wichtig ist bei Beikost nach Bedarf lediglich, dass das Essen Spass machen soll und die Babys die Lebensmittel mit allen Sinnen erkunden dürfen – Letzteres ist eigentlich das oberste Ziel. Der Erwachsene entscheidet dabei, welche Lebensmittel in welcher Form angeboten werden. Das Baby hingegen entscheidet, was davon gegessen wird, welche Reihenfolge gewählt wird, über das Tempo sowie die Menge. Wichtig ist auch, dass Eltern sich keinen Stress machen.
Wann ist ein Baby bereit?
Die nationale Empfehlung der Gesundheitsförderung Schweiz lautet, dass frühstens mit Beginn des fünften und spätestens mit Beginn des siebten Monats mit der Beikost gestartet werden soll. «Dies selbstverständlich unter Berücksichtigung der individuellen echten drei Beikostreifezeichen», sagt Nina Kaufmann, welche da wären:
Stabile Kopf- und Rumpfkontrolle: Wichtig ist, dass das Baby mit etwas Unterstützung an der Hüfte stabil sitzen und den Kopf selbstständig halten kann. Ein freies Sitzen ist nicht erforderlich. Solange das Baby jedoch noch Unterstützung benötigt, sollte es auf dem Schoss einer Bezugsperson gefüttert, oder ihm Essen angeboten werden.
Hand-Mund-Augenkoordination: Das Baby muss in der Lage sein, einen Gegenstand gezielt mit den eigenen Händen zum Mund zu führen. Landet die Hand häufiger an der Nase oder am Ohr sollte noch abgewartet werden mit dem Beikoststart.
Zungenstossreflex: Alle Babys kommen mit einem Schutzmechanismus, dem Zungenstossreflex, zur Welt. Babys befördern mit diesem Reflex alles wieder aus dem Mund, was dort nicht hingehört. Auf keinen Fall sollte dieser Reflex von den Eltern «umgangen» werden, da dann das Risiko zum Verschlucken oder Ersticken um ein Vielfaches höher ist. Wenn dieser Reflex verschwunden ist und die beiden ersten Reifezeichen erfüllt sind, kann mit der Beikost gestartet werden.
Welche Lebensmittel eignen sich besonders für den Einstieg?
Grundsätzlich kann mit allem gestartet werden, was weich genug ist, dass die Babys dies mit ihren Kauleisten sowie der Zunge am Gaumen zerdrücken können. Alles, was zwischen zwei Fingern mit etwas Kraftaufwand zerdrückt werden kann, ist geeignet. Wenn das Baby selbstständig essen soll, sollten die Lebensmittel so gross sein, dass es sie mit der ganzen Hand halten kann. Der Pinzettengriff, die Fähigkeit, etwas mit zwei Fingern aufzunehmen, kommt erst später. Es gibt nur wenige Lebensmittel, die nicht für den direkten Start geeignet sind (siehe Kasten).
Zur Person
Nina Kaufmann ist ausgebildete BFB bindungsorientierte Familienbegleiterin® in den Bereichen Stillen, Baby- und Kleinkinderschlaf sowie Beikost. Zudem hat sie eine Fortbildung zur Fes® Fachkraft für Formula ernährte Säuglinge, damit sie auch Flascheneltern unterstützen und beraten kann. Im Bereich Beikost bietet sie Einzelberatungen sowie Beikostworkshops an. Beides je nach Wohnort der Eltern vor Ort, bei Ihnen zu Hause oder online.
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Gibt es spezielle Vorbereitungen, die Eltern treffen sollten, bevor sie BLW ausprobieren?
Ich empfehle, einen Beikostworkshop zu besuchen, um informiert und sicher zu starten. Zudem ist es sinnvoll, einen Nothelfer für Babys zu besuchen.
Welche Vorteile hat BLW für die motorische Entwicklung und die Selbstständigkeit?
Mit BLW lernen Babys, selbstständig zu essen und auch selbständig nach dem Essen zu greifen. Durch die Selbstbestimmung bleibt das angeborene natürliche Hunger- und Sättigungsgefühl erhalten, und die Babys werden in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt. Durch das selbstbestimmte Essen lernt ein Kind, selbst zu entscheiden, ob es Hunger verspürt und ob ihm ein Lebensmittel schmeckt oder nicht. Zudem werden das Kauen und Würgen früher geübt, als wenn ein Baby nur Lebensmittel in breiiger Konsistenz bekommt.
Gibt es gesundheitliche Vorteile im Vergleich zur traditionellen Beikost?
BLW hat nachweislich einen positiven Einfluss auf Vorlieben für Lebensmittel und bildet so die Bausteine für eine gesunde Ernährung. Es kann zu einem gesünderen Essverhalten führen und die Babys können später weniger wählerisch werden, denn sie lernen von Beginn weg die Lebensmittel in ihrer optischen Form kennen. Wie sieht ein Brokkoli aus? Was ist eine Banane? Beim klassischen Breifahrplan isst ein Kind vielleicht alles, sieht aber nicht, wie ein Brokkoli aussieht und kann diesen später ablehnen. Babys, die Fingerfood anstelle von Brei erhalten, haben weniger mit Verstopfungen zu kämpfen, da sie die zu essende Menge selbst beeinflussen können. Ein Baby würde etwa die Mengen an Gemüse, die in einem Breigläschen püriert sind, nie als Fingerfood essen.
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Welche Herausforderungen oder Risiken gibt es?
Eine Herausforderung ist sicherlich, darauf zu vertrauen, dass das Baby kompetent ist und weiss, wann es Hunger hat. Eltern überschätzen oftmals den Nahrungsbedarf von Babys und haben schnell das Gefühl, dass zu wenig gegessen wird. Es sollte niemals Stillen oder Fläschenfütterung reduziert werden, mit dem Hintergedanken, dass die Babys dann sicherlich mehr isst. BLW braucht definitiv auch stärkere Nerven bei den Eltern, da es je nach Lebensmittel ganz schön dreckig werden kann. Damit meine ich das Kind, wie auch die unmittelbare Umgebung. Dazu gebe ich in meinen Beikostworkshops hilfreiche Tipps und Tricks.
Besteht beim Baby Led Weaning eine höhere Erstickungsgefahr als bei Brei? Wie kann man das Risiko minimieren?
Wenn Babys von Beginn an immer mal wieder Fingerfood zum selbständigen Essen bekommen, besteht kein höheres Erstickungsrisiko als bei Breifütterung. Hier muss zudem zwischen Verschlucken/Ersticken und dem angeborenen Würgereflex unterschieden werden. Würgen ist ein angeborener Schutzmechanismus, der bei Babys noch sehr weit vorn auf der Zunge liegt und im Laufe der Monate immer weiter nach hinten «wandert». Würgen sieht sehr dramatisch aus, ist aber absolut normal. Es ist wichtig, dass die Eltern die Babys dann nicht stören, sondern lediglich aufmerksam beobachten und sie machen lassen. Denn Würgen ist ein normaler Lernprozess in der Beikostzeit. Verschlucken hingegen bedeutet, dass Nahrungsbestandteile in die Luftwege eindringen. Babys versuchen automatisch, diese Bestandteile abzuhusten. Gelingt dies nicht, wird die Luftröhre blockiert und Erstickung droht. Dieses Risiko besteht bei allen Beikostkonzepten. Deswegen ist es wichtig, einen Erste-Hilfe-Kurs zu besuchen und gewisse Sicherheitsregeln zu beachten. Diese gelten sowohl für BLW als auch für Brei und sämtliche weitere Beikostkonzepte:
Babys müssen immer aufrecht sitzen: Essen in liegender oder halbliegender Position kann sehr gefährlich sein und zum Ersticken führen. Auch in der Babyschale im Auto ist Essen strikt verboten.
Babys sollten nie alleine essen: Mindestens eine Bezugsperson sollte während der gesamten Mahlzeitdauer aufmerksam sein, um mögliche Gefahrensituationen schnell zu erkennen und zu handeln. Es zählt im schlimmsten Fall jede Sekunde. Babys, die am Ersticken sind, machen keine Geräusche mehr und können nicht auf sich aufmerksam machen!
Selbstbestimmt essen: Eltern sollten nie gegen den Willen des Babys Essen in seinen Mund schieben. Sonst kann es vorkommen, dass das Baby nicht bereit ist, sich vor Schreck verschluckt oder die Nahrungsmittel nicht richtig verkleinert.
Babys sollten in Ruhe essen: Jede Art der Ablenkung kann vor allem zum Beikoststart gefährlich sein. Die Babys müssen zuerst lernen, wie essen und kauen funktioniert, und das benötigt Konzentration.
Was ist nicht geeignet?
Es gibt einige Lebensmittelgruppen, die in ihrer ursprünglichen Form nicht geeignet sind. «In verarbeiteter oder angepasster Form ist alles davon super geeignet», sagt Nina Kaufmann:
Prall-runde Lebensmittel (z.B. Weintrauben oder Blaubeeren) sollten in ganzer Form gemieden werden. Sobald das Kind den Pinzettengriff beherrscht, können diese geviertelt werden.
Kleine, härtere Lebensmittel (z.B. Erbsen, Maiskörner) sollten vermieden werden, da diese einfacher in die Luftröhre rutschen können. Sobald das Baby mehr Zähne und gelernt hat, wie Kauen funktioniert, können diese langsam eingeführt werden.
Blätter, Häute und Schalen bilden ebenfalls ein Erstickungsrisiko und sollten für den Start vermieden werden.
Naturbelassene Nüsse können in den ersten Jahren nicht verkleinert werden und sollten deswegen nur in verarbeiteter Form (als Muss oder geschreddert) verwendet werden.
Harte Rohkost (z.B. rohe Äpfel oder Karotte) sollte erst eingeführt werden, wenn das Baby Backenzähne hat. Auch zum Lutschen sind zum Beispiel Gurkenstücke ungeeignet, da Stücke abbrechen können und das Baby diese noch nicht verkleinern kann.
Einige Lebensmittel sollten aufgrund der Gefahr von Krankheiten für gewisse Jahre ganz gemieden werden, etwa. Fencheltee aus den Samen in den ersten vier Lebensjahren. Auch Honig sollte mindestens im ersten Lebensjahr komplett gemieden werden. Möchte man etwas süssen, was absolut nicht notwendig ist, können Datteln oder Bananen verwendet werden.
Wie stellen Eltern sicher, dass ihr Baby alle wichtigen Nährstoffe erhält?
Im ersten Lebensjahr nimmt das Baby die meisten Nährstoffe weiterhin durch das Stillen nach Bedarf und/oder die Fläschchengabe nach Bedarf auf. Genau aus diesem Grund sollte es nicht das Ziel der Eltern sein, möglichst schnell die Milchmahlzeiten zu ersetzen, sondern dass die Babys Spass dran haben, das Essen zu erkunden. Natürlich ist es unabdingbar, dass die Eltern gesund und ausgewogen essen – und somit auch Babys solche Lebensmittel bekommen.
ZUR WEBSITE VON NINA KAUFMANN


