Ein Begegnungsort für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen: das ist die Idee hinter dem «Erzählbistro». Gründer ist Urs Allemann, der Jurist war einst selbst ein Verdingkind. Er konzipierte das Erzählbistro zusammen mit Pascal Krauthammer, der heute als Co-Geschäftsführer und Leiter der Geschäftsstelle fungiert «Das Bistro bietet für die, die wollen, einen Rahmen, sich auszutauschen», erklärt er. «Sie können hier über Erlebnisse sprechen, von denen manchmal nicht einmal die eigene Familie weiss.»
Herr Krauthammer: Für wen genau ist das Erzählbistro?
Pascal Krauthammer: Bei uns sind alle Gruppierungen vertreten: etwa Menschen, die administrativ versorgt wurden, die in Heimen Misshandlungen erlebt hatten oder auf Höfen als Verdingkinder missbraucht wurden. Nicht selten sind die Schicksale gemischt: Jemand war zum Beispiel erst in einem Heim und dann auf zwei Landwirtschaftsbetrieben. Wir sind der grösste Zusammenschluss von Betroffenen und verfügen über einen Adress-Stamm mit mehreren hundert Namen. Das Projekt wird vom Bundesamt für Justiz und von der Guido-Fluri-Stiftung unterstützt. [IMG 2]
Wie kam das Projekt zustande?
Im Frühling 2014 lancierte Guido Fluri die sogenannte erfolgreiche Wiedergutmachungsinitiative, die zu einer umfassenden Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Schweiz führte. Ich war damals Kampagnenleiter. Im Anschluss kam die Idee auf, dass nach der kollektiven Auseinandersetzung auch eine Aufarbeitung der persönlichen Lebensgeschichte passieren muss. So entstand ein Selbsthilfeprojekt namens Erzählbistro, bei dem die Biografie der Betroffenen im Zentrum steht.
Was passiert konkret im Erzählbistro?
Das Zentrale sind die Erzählcafés: Dabei erzählen die Leute aus ihren Leben. Diese Anlässe sind moderiert und wir schauen, dass es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dabei gut geht. Es gibt auch Erzählcafés per Telefon oder Video. Einige haben zudem ihre Geschichten aufgeschrieben oder erzählen sie in Videos. Hier geht es darum, Zeugnis abzulegen und für die nächste Generation zu konservieren. Daneben organisieren Betroffene selbst gesellige Anlässe, wie etwa Postautofahrten oder Jass-Nachmittage.
Welches war der letzte Anlass des Erzählbistros?
Am 14. Juni fand in Langenthal das Sommerfest des Erzählbistros und der Guido-Fluri-Stiftung statt, bei dem fast 700 Verdingkinder und andere Betroffene zusammenkamen. Es war eines unserer Highlights, bei dem es einzig darum ging, einen Moment glücklich zusammen zu sein. So ein Fest ist auch ein Zeichen, dass sich etwas verändert hat: Vor der Initiative waren es ein paar Dutzend Menschen, die nach aussen dazu standen, was sie erlebt haben. Heute sind es hunderte, die sagen: «Ich bin Teil dieser Geschichte.»
Wie kommt das Angebot des Erzählbistros an?
Die Resonanz ist hoch bei denen, die noch dabei sein können. Doch viele sind alt und gebrechlich. Es gibt sehr engagierte Betroffene, die über starke seelische Ressourcen verfügen. Deutlich machen möchte ich bei dieser Gelegenheit auch, dass wir nicht von Opfern sprechen, sondern von «Survivors», Überlebenden oder Betroffenen. Ihnen ist grosses Unrecht geschehen, doch viele haben ihr Leben gemeistert. Sie verfügen über eine enorme Resilienz. Daher heisst unser nächstes Projekt «Caregivers».
Was beinhaltet dieses Projekt?
Verdingkinder helfen dabei Verdingkindern. Hinter dem Projekt stehen die Guido-Fluri-Stiftung als Urheberin der Wiedergutmachungsinitiative und die Pro Senectute des Kantons Bern. Speziell ausgebildete Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen begleiten und unterstützen dabei andere Betroffene im Alltag – vor Ort oder virtuell. Wir haben bisher in der Deutschschweiz und der Romandie rund 15 Caregivers, die dutzende von Einsätzen haben.
«Die Geschichten von Betroffenen sind komplex und beeinflussen ganze Familien.»
Pascal Krauthammer über Traumas, die auf die nächste Generation übergehen können.
Laut Website gibt es auch ein Projekt «next generation», für die nächste Generation …
Die Geschichten von Betroffenen sind komplex und beeinflussen ganze Familien. Oftmals wird der ausgeprägte Durchhaltewille und eine beeindruckende Stärke weitergegeben. Traumata können auf die nächste Generation übertragen werden, wie man heute weiss, etwa Ängste, fehlendes Vertrauen in sich selbst und andere. Doch man kann diese Muster durchbrechen. Das Projekt «next generation» läuft zusammen mit der Berner Fachhochschule und wendet sich an die Kinder der Betroffenen. Es geht der Frage nach, wie sie mit der Geschichte der Eltern umgehen können.
Warum sind Betroffenen-Organisationen wie das Erzählbistro heute noch wichtig?
Mir war schon bei der Wiedergutmachungsinitiative wichtig, dass es nicht nur eine kollektive Entschuldigung vom Staat gab. Es braucht auch eine individuelle Aufarbeitung. Für mich als Rechtshistoriker ist zudem interessant, wie das Gesetz eine Wirkung entfaltet und sich die betroffenen Menschen als Teil der Geschichte verstehen. Niemand muss sich schämen für das, was er oder sie erlebt hat. Die Aufarbeitung hat eine heilsame Wirkung und den Betroffenen ein Stück Gerechtigkeit zurückgegeben. Wir unterstützen sie auf dem Weg der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, doch die eigentliche Arbeit machen sie selber. Nicht zuletzt haben die Wiedergutmachungsinitiative und die Selbsthilfe-Projekte auch eine Wirkung über die Grenze hinaus.
Was heisst das?
So empfiehlt etwa der Europarat seinen Mitgliedstaaten, die Aufarbeitung von ähnlichen Fällen von Kindesmissbrauch und/oder fürsorgerischen Zwangsmassnamen nach Schweizer Vorbild anzugehen. Wir haben in der Schweiz Pionierarbeit geleistet, die international beachtet wird.
