Das Zürcher Schauspielhaus eröffnet seine neue Saison am 18. September 2025 im Pfauen mit einem Stück, das auf den ersten Blick erstaunlich ländlich wirkt: «Blösch». Die Bühnenfassung von Mike Müller, bekannt als Bauer Wermelinger, nach dem Debütroman von Beat Sterchi wird von Rafael Sanchez inszeniert. Im Zentrum steht eine Leitkuh – und mit ihr die Sorgen, Hoffnungen und Abgründe einer bäuerlichen Welt.

«Wyt u breit uf am Länge Berg die brävschti Chue, aber dr Ranze het sie weiss Gott bis hingenuse voll Stieregringe!» – so beginnt Sterchis Geschichte von Blösch, der prächtigen Leitkuh auf dem kleinen Knuchelhof. Jahr für Jahr wirft sie nur männliche Kälber, was den Bauern Knuchel in seiner Existenz bedroht. Während die Nachbarn auf moderne Technik setzen, hält er an Handwerk und Tradition fest. Er schafft keine Melkmaschine an, sondern einen Melker: den Spanier Ambrosio, der sich – von der Dorfgemeinschaft argwöhnisch beäugt – in die harte bäuerliche Arbeit einfügt.

Doch das Leben auf dem Hof ist weit entfernt von Postkartenidylle. Ambrosio, der Fremde, findet zu den Tieren mehr Nähe als zu den Menschen, und am Ende steht die Begegnung mit Blösch im Schlachthof.

Der Blösch

«Ein Blösch ist eine hellrot gedeckte Kuh», sagt Viehzuchtspezialist und Redaktor Peter Fankhauser. Er spricht von Falb-Blösch (heller) und Rot-Blösch (dunkler). Für ihn sei dieser Farbschlag insbesondere noch bei den Simmentalern zu finden. Da sage man gerne «ä schön Blöschäti», erklärt er. Der Begriff steht aber ursprünglich nicht nur mit der Farbe der Kuh als Ganzes im Zusammenhang, sondern vielmehr mit Weiss am Kopf. Ein weisser Kopf oder ein grosser weisser Fleck gehörten traditionell zum Blösch. Sehr oft wurde auch von einem Blösch gesprochen, wenn er am sonst weissen Kopf einen Backenfleck hatte. 

Ganz nahe dran

Beat Sterchis Roman von 1983 war seinerzeit eine kleine Sensation. Er beschreibt mit penibler Genauigkeit die Realität von Stall, Hof und Schlachthaus. Es ist eine Sprache, die nahe am Handwerk ist, die den Geruch der Gülle kennt, die die Last der Arbeit spürbar macht. Keine Romantisierung, sondern ein literarisches Durchdringen der bäuerlichen Welt – und ein kritischer Blick auf die Ausbeutung von Mensch und Tier.

Dass das Schauspielhaus Zürich diesen Stoff zur Saisoneröffnung bringt, scheint ein klares Signal: Landwirtschaft ist nicht nur ein Randthema, sondern mitten in der Stadt von brennender Aktualität. Die Fragen nach Tierwohl, nach dem Wandel der bäuerlichen Betriebe und nach der Würde von Arbeitern wie Tieren sind heute mindestens so präsent wie in den frühen 1980er-Jahren.

Sterchi, der Metzgerssohn

Beat Sterchi selbst ist Metzgerssohn aus Bern mit Jahrgang 1949. Er lernte den Beruf, den er nicht liebte, wanderte dann nach Kanada aus, lebte in Honduras und Spanien. Überall kam er mit Landwirtschaft in Berührung, als Arbeiter, Beobachter und Schriftsteller. Seine Erfahrungen im Schlachthaus haben ihn geprägt – und sie haben in «Blösch» eine literarische Form gefunden.

Im Interview mit dem «Zürcher Tagblatt» erklärte Beat Sterchi 2021, dass er zeitweise Vegetarier wurde, doch vor allem bewusster zu essen begann: «Ich schrieb das Buch in Kanada, wo man in den späten 1970er-Jahren viel diskutiert hat, wie man die Welternährung in den Griff bekommt. Aus einem globalen politischen Bewusstsein gab es Kritik am Fleischkonsum. Heute geht man mehr vom Tierwohl aus.»

Schlachten versus Gemüse

38 Jahre nach seinem Debüt veröffentlichte Beat Sterchi 2021 das Buch «Capricho». Darin geht er den umgekehrten Weg. Weg von der Härte des Schlachthofs, hin zur warmherzigen Beobachtung des ländlichen Alltags in einem spanischen Dorf. Mit einem terrassierten Gemüsegarten, Kartoffelbeeten und einfachen Arbeiten beschreibt er eine Art heile Welt, die aber keinesfalls verklärt dastehen soll.

«Wir alle sollten mehr daran denken, dass wir den Acker brauchen, der unsere Nahrung hervorbringt», sagte Beat Sterchi pointiert im Interview mit dem «Zürcher Tagblatt» 2021. Ein Satz, der bei Stadtbewohnern vielleicht wie eine Erinnerung klingen mag – für Bauernfamilien ist er alltägliche Realität.

Stadt trifft Land

Das Schauspielhaus Zürich bringt nun «Blösch» zurück in die öffentliche Debatte. Dass ausgerechnet die traditionsreiche Bühne am Pfauen das Stück spielt, ist bemerkenswert. Mitten in Zürich wird sichtbar, dass Landwirtschaft kein fernes Thema ist, sondern zum Kern gesellschaftlicher Fragen gehört: Ernährung, Tierhaltung, Arbeit, Migration, Technik und Tradition.

Für die Bauernschaft mag es ungewöhnlich erscheinen, die eigene Welt auf einer grossen Stadtbühne gespiegelt zu sehen. Doch gerade das macht den Reiz aus: Dass die bäuerliche Realität von einem Schriftsteller wie Beat Sterchi, der sie kennt, ernst genommen wird – und dass sie nun im Schauspielhaus Zürich nicht nur für Städter, sondern für alle zum Gespräch wird.

Infos zum Stück

Noch ein weiteres Stück «vom Hof»

Am Schauspielhaus wird noch ein weiteres landwirtschaftlich geprägtes Stück gezeigt – diesmal deutlich surrealer. In «Holstein Milchkühe» der japanischen Autorin und Regisseurin Satoko Ichihara geht es um Folgendes: Eine Frau, die vor ihrer Hochzeit als Besamungstechnikerin für Kühe gearbeitet hat, trifft auf ein übernatürliches Wesen, halb Mensch und halb Rind. Diese Begegnung konfrontiert die Frau mit ihrer Vergangenheit: Aus dem plötzlichen Wunsch heraus, selbst Mutter zu werden, hatte sie nicht nur in einer anonymen Internetsamenbank eine Bestellung aufgegeben, sondern diesen menschlichen Samen in einem unkontrollierten Moment auch noch in den Uterus einer Kuh injiziert.

Was im Stall als Routinearbeit bekannt ist – die künstliche Besamung – wird hier zur Quelle einer radikalen Tragödie. Das Stück verknüpft bäuerliche Praxis mit antiker Mythologie und rüttelt an den Grenzen zwischen Mensch und Tier, Familie und Viehwirtschaft.