«Wir wohnen, arbeiten und leben zusammen, und trotzdem war es spannend zu sehen, wie unterschiedlich mein Mann und ich manches wahrnehmen», sagt Mireille Hirt.
Die Milchproduzentin und Landwirtin aus St. Ursen (Freiburg) hat gemeinsam mit ihrem Mann den neuen «Selbstcheck Lebensqualität» der Schweizer Milchproduzenten (SMP) ausgefüllt. Mit diesem Online-Fragebogen stellen die SMP ein Werkzeug bereit, das Milchproduzentinnen und -produzenten hilft, ihren Alltag in Bezug auf Lebensqualität zu analysieren und gezielt zu verbessern.
Ehepaar gewichtet anders
«Beide Partner haben ein eigenes Profil. Nach dem Ausfüllen können sie die Ergebnisse anhand eines Spinnendiagramms gemeinsam ansehen und vergleichen», erklärt Mireille Hirt, die bei der SMP im Vorstand ist. Überraschend für sie war die Erkenntnis, dass ihr soziales Netzwerk eine grössere Rolle für ihre Lebensqualität spielt, als sie selbst gedacht hätte. «Ich bin stark in der Berufsvertretung engagiert und komme aufgrund dieser Ämter oft vom Hof weg. Aber sonst habe ich nicht viele soziale Kontakte ausserhalb: Ich bin weder im Landfrauenverein, noch gehe ich einmal die Woche Volleyball spielen.» Ihr Mann Christophe hingegen legt mehr Wert auf betriebliche Themen und macht sich häufiger Gedanken – oder auch Sorgen – um die Zukunft des Betriebs.
«Ich habe gelernt, wie wichtig meinem Mann bestimmte Themen sind.»
Mireille Hirt fragt deshalb seit dem Selbstcheck Lebensqualität mehr bei ihrem Mann Christophe nach, wie es etwa im Ackerbau läuft.
Diese unterschiedlichen Schwerpunkte führten nicht zu Konflikten, sondern zu einem besseren gegenseitigen Verständnis. «Ich habe gelernt, wie wichtig ihm bestimmte Themen sind – also frage ich nun zum Beispiel mehr nach, wie es im Ackerbau läuft, der sein Bereich ist. Und er versteht besser, warum mir soziale Kontakte mehr bedeuten als ihm und warum ich gern noch etwas sitzen bleibe, wenn meine Schwester zum Kaffee kommt», erzählt Mireille Hirt.
Die Familie Hirt führt einen rund 50 Hektar grossen Pachtbetrieb, der dem Zisterzienserinnenkloster in Fribourg gehört, in der dritten Generation. Die Milch ihrer 40 Kühe wird an die Cremo geliefert. Die Hirts setzen in der Zucht auf robuste Kühe. Dazu kommen 40 Stück Jungvieh, zehn Galloway-Mutterkühe, deren Fleisch sie direkt vermarkten, 9000 Stück Geflügel (Elterntieraufzucht), zwei Pferde sowie Ackerbau.
Kaffee, Bücher, Ausreiten
Auf einem Betrieb gibt es immer viel zu tun, und die eigene Lebensqualität kann angesichts der vielen Arbeit leicht in Vergessenheit geraten. Der Selbstcheck soll helfen, sich diese Frage bewusster zu stellen. Für Mireille Hirt bedeutet Lebensqualität vor allem Zeit für sich: «Zeit für einen Kaffee am Morgen mit meinem Mann, bevor der Tag losgeht, oder Zeit, am Abend noch ein Buch zu lesen, ohne gleich einzuschlafen. Oder für einen Ausritt.» Auch Gesundheit und die Möglichkeit, Zeit mit dem Partner und der Familie zu verbringen, sind für sie essenziell.
Ihr Mann hingegen sieht seine Lebensqualität vor allem in einem reibungslosen Betriebsablauf und in der Freude über gut funktionierende Prozesse. «Er liest zum Beispiel im Gegensatz zu mir nicht gern», sagt Mireille Hirt. Diese unterschiedlichen Prioritäten zeigen, wie individuell der Begriff Lebensqualität ist. Doch eines wird klar: Ohne bewusste Reflexion und Zeit für sich selbst bleibt die Lebensqualität schnell auf der Strecke – ein Problem, das in der Landwirtschaft oft nur schwer zu lösen ist.
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Mireille Hirt kann sich gut vorstellen, dass auch ein potenzieller Hofnachfolger oder eine Hofnachfolgerin vom Selbstcheck profitieren könnte. «Meine Generation macht Abstriche bei den sozialen Kontakten oder bei Ferien, weil man zweimal pro Tag in den Stall muss. Die Jungen haben da oft mehr Mühe oder andere Vorstellungen, was ich auch nachvollziehen kann.» Zurzeit melken die Hirts in einem Melkstand, aber auch die Frage nach der Anschaffung eines Melkroboters könnte durch den Selbstcheck beleuchtet werden.
Die vier Kinder sind 20, 18, 16 und 14 Jahre alt. Ob eines von ihnen den Hof übernehmen wird, steht noch in den Sternen. «Wir sind beide noch nicht 50 und es ist ein Pachtbetrieb, also haben wir da keinen Stress.»
«Wir möchten wissen, wie es unseren Mitgliedern geht.»
Mireille Hirt ist vom neuen Online-Check überzeugt und hat sich im SMP-Vorstand dafür starkgemacht.
Tier und Mensch
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Bedeutung der Lebensqualität hat Mireille Hirt an der World Dairy Conference in Paris erlebt. Dort wurde eine kanadische Studie vorgestellt, die zeigte, dass das Wohl der Tiere direkt mit dem Wohlbefinden der Betriebsleiter zusammenhängt. Selbst in identischen Haltungssystemen gab es Unterschiede in der Tiergesundheit, die auf die Lebensqualität der Landwirte zurückzuführen waren. «Ohne Lebensqualität der Betriebsleiter gibt es auch kein Tierwohl», fasst Mireille Hirt zusammen.
Ein weiterer Aspekt des Selbstchecks ist der Vergleich mit anderen Betrieben. Diese Funktion erfordert allerdings zunächst eine breite Basis an Teilnehmenden. «Wir hoffen natürlich, dass möglichst viele Milchproduzentinnen und -produzenten mitmachen. Wir möchten wissen, wie es unseren Mitgliedern geht», sagt Mireille Hirt.
Der Selbstcheck bedeutet der Freiburgerin viel, und sie hat sich innerhalb der SMP stark dafür engagiert. «Ich stehe eigentlich ungern im Mittelpunkt, aber für eine Video-Botschaft, um den Selbstcheck bekannter zu machen, habe ich mich gern vor die Kamera gestellt, weil ich von seinem Nutzen überzeugt bin.»
Eigene Anlaufstelle schaffen
Langfristig plant die SMP sogar, eine zentrale Anlaufstelle zu schaffen, bei der Milchproduzentinnen und -produzenten zu Themen der Lebensqualität beraten werden können. «Es ist wichtig, dass wir darüber sprechen und das Thema Lebensqualität sichtbar machen», betont Mireille Hirt.
Der Startzeitpunkt im Oktober 2024 sei bewusst gewählt worden, da in den meisten Betrieben im Winterhalbjahr mehr Zeit für Reflexion bleibt.
Zur Website Selbstcheck Lebensqualität der SMP
Betriebsspiegel
Name: Mireille und Christophe Hirt
Ort: St. Ursen FR
Ackerfläche: 50 ha
Viehbestand: 40 Milchkühe, 40 Stück Jungvieh, 10 Galloway-Mutterkühe, 9000 Hennen und Hähne (Elterntier-Aufzucht) und 2 Pferde.
Kulturen: Weizen, Gerste, Raps, Eiweisserbsen, Silomais, Kunst- und Naturwiesen
Labels: IP-Suisse (Milch und Kulturen)
Betriebszweige: Milchproduktion für Cremo, Geflügelaufzucht, Direktverkauf Galloway-Fleisch aus Mutterkuh-Haltung, Ackerbau
Arbeitskräfte: Betriebsleiterpaar, ein Lehrling
