Die Argumentation klingt schlüssig: Es gibt immer mehr Gänsegeier in der Schweiz, deshalb wird Aas als Nahrung knapp und die Tiere beginnen, selbst für Kadaver zu sorgen. Die grossen Vögel fliegen über Schafherden, erschrecken sie und treiben sie in einen Abgrund. Es gibt aber eine Reihe von Fakten, die gegen ein solches Verhalten sprechen. Und um es vorwegzunehmen: Stichhaltige Beweise dafür, dass sich Gänsegeier vom Aasfresser zum Jäger entwickeln, fehlen bisher.
Schafe reagierten nicht
«Die Bilder dieser Schafe sehen wirklich übel aus», meint auch Livio Rey. Der Biologe von der Vogelwarte Sempach hat sich eingehend mit den bisher gemeldeten Vorfällen im Zusammenhang mit Gänsegeiern beschäftigt und war in den letzten Jahren immer wieder selbst in Boltigen BE, auch nach dem Vorfall auf der Alp Nüschlete. Dort soll sich laut den dortigen Älplern die eingangs beschriebene Szene abgespielt haben. «Ich konnte zusammen mit weiteren Personen Gänsegeier beobachten, die einige Meter neben den Schafen hockten – die Nutztiere hat das überhaupt nicht gekümmert», berichtet Rey. Selbst als die Geier aufflogen und knapp über ihre Köpfe flogen, habe das die Schafe nicht erschreckt.
Hauptsächlich in den Alpen
In der Schweiz sind Gänsegeier keine Brutvögel, sondern fliegen aus Frankreich her ein, um den Sommer hier zu verbringen. Sie sind von April bis Oktober, selten auch im Winter hierzulande anzutreffen. Als Lebensraum dient ihnen steiles, zerklüftetes Gelände mit Alpweiden und -wiesen, wo die Vögel Sitzwarten finden und die Thermik zum energiesparenden Gleiten nutzen können. Gänsegeier erreichen eine Spannweite von bis zu 265 cm und sind damit etwa gleich gross wie Bartgeier. Kopf und Hals sind nur leicht befiedert, eine Halskrause schützt den Körper beim Verzehr von Kadavern vor Schmutz. Das Verbreitungsgebiet während der Zugzeit in der Schweiz umfasst hauptsächlich die Alpen, seltener sind Beobachtungen im Jura und im Mittelland.[IMG 3]
Der Beginn wäre zentral
Reys Beobachtungen widersprechen den Berichten von Älplern und den Schilderungen, die man mit diversen Videos im Netz zu untermalen versucht. Von der Alp Nüschlete etwa gibt es Aufnahmen, die kreisende Gänsegeier über den verendeten Schafen zeigen oder wie die Vögel an die Kadaver gehen. «Die Videos zeigen aber nicht, wie die Tiere in diese Situation gekommen sind», gibt Livio Rey zu bedenken. Es ist das Grundproblem in dieser Sache: Es ist sehr schwierig, den Beginn eines Vorfalls dokumentieren. Aber genau das wäre zentral für eine sachliche Beurteilung des Verhaltens von Gänsegeiern. «Dass Geier auch an schwer verletzten Schafen fressen können, ist schon lange bekannt. Videos davon sind aber kein Beweis dafür, dass die Geier die Tiere gejagt haben.» Die Gefahr für Missinterpretationen bei so dramatischen Szenen ist hoch und daher eine gute Dokumentation umso wichtiger, so der Biologe.
Ausserdem spricht alles, was man bisher über Gänsegeier weiss, gegen ein Jagdverhalten gegenüber gesunden Tieren. Zu erwähnen wären im Vergleich etwa zu Adlern schwache Krallen und wenig scharfe Schnäbel – Anpassungen an ein Leben als Aasfresser.
«Wir wollen den Gänsegeier nicht verherrlichen.»
Livio Rey, Biologe bei der Vogelwarte, über die Haltung der Stiftung.
Sie könnten einfach weg
«Gänsegeier sind Thermikflieger und können daher ohne Energieaufwand im Flug weite Strecken zurücklegen», erläutert Livio Rey weiter. An einem Tag sind so Distanzen über mehrere Hundert Kilometer möglich. Die meisten Gänsegeier in der Schweiz sind Jungvögel aus Frankreich, die das dortige Brutgebiet verlassen haben und umherstreifen. «Sie fliegen über Hunderte Kilometer zu uns, weil sie hier viel Nahrung finden. Bei Nahrungsmangel könnten die Vögel einfach weiterziehen», gibt Rey zu bedenken. In Not gerät ein Gänsegeier nicht so schnell, dank Fettpolstern kann er wochenlang ohne Nahrung überleben.
Dass Gänsegeier wegen Nahrungsknappheit Schafe angreifen, ist aus einem weiteren Grund unwahrscheinlich: Die gehäuften Berichte über angebliche Vorfälle decken sich nicht mit der Zunahme der Gänsegeier-Bestände. Diese sind zwar laut dem Auftretensindex der Vogelwarte insbesondere seit 2016 stark gewachsen, in der Region Boltigen wurden laut Livio Rey aber bereits in den letzten sechs Jahren immer mehr als 100 Exemplare beobachtet. «Der bisherige Höchststand wurde in Boltigen 2020 mit über 170 Gänsegeiern erreicht. Dennoch hat die Vogelwarte in all den Jahren keine Kenntnis von Berichten über Jagdverhalten bei diesen Vögeln.» Zwar brauchen die bis zu 11 kg schweren Geier pro Tag etwa 500 g Fleisch, doch an Aas mangle es in den Alpen nicht: Abgestürzte oder an Krankheiten verendete Nutz- und Wildtiere schaffen eine solide Nahrungsgrundlage. Rey zitiert dazu eine Studie von 2012, die von jährlich 4000 verendeten Schafen in den Schweizer Alpen ausgeht. Neuere Zahlen dazu gibt es nach Auskunft des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verband (SAV) derzeit nicht. Zusätzlich profitieren Aasfresser wie der Gänsegeier von Wolfsrissen, was zu Problemen mit der Entschädigung führen kann, wenn Risse zu schnell durch die Vögel «entsorgt» werden. Die Kantone gehen damit unterschiedlich um.
Immer mehr, aus Frankreich kommend
Seit rund 10 Jahren sieht man regelmässig Gänsegeier in der Schweiz. Dank einem Wiederansiedlungsprojekt gibt es in Frankreich heute über 3000 Brutpaare, zuvor war die Art praktisch ganz aus Westeuropa verschwunden. Diese «Erfolgsgeschichte des Naturschutzes» hat zu deutlich mehr Beobachtungen von Gänsegeiern in der Schweiz geführt.
Keine Bruten
Da es sich allerdings primär um herumstreifende Jungvögel handelt, gibt es hierzulande keine Bruten. Fachleute erwarten auch nicht, dass Gänsegeier in der Schweiz in naher Zukunft vom Sommergast zum Brutvogel werden. «Und selbst wenn», ergänzt Livio Rey von der Vogelwarte, «würde es kaum einen Unterschied für die Alpwirtschaft machen.»
Mehrere Hundert
Der Auftretensindex der Vogelwarte zeigt den starken Anstieg der Beobachtungen in der Schweiz, vor allem seit 2016. Der Index bildet lediglich eine Entwicklung ab und gibt keine Auskunft über absolute Zahlen. Es ist äusserst schwierig, verlässliche Schätzungen über die Anzahl Gänsegeier in der Schweiz zu machen. Die Vogelwarte geht aber von mehreren Hundert Individuen aus, die jedes Jahr den Sommer in der Schweiz verbringen.
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Weniger Geier, mehr Tollwut
[IMG 5]An sich wäre aber ebendieses Verhalten eine positive Seite der Gänsegeier, da sie so der Verbreitung von Krankheiten entgegenwirken können. «Man sieht das in südlichen Ländern am Beispiel anderer Geierarten», erzählt Livio Rey. Dort sind die Geierbestände in den letzten Jahren massiv eingebrochen. Weil die Kadaver nicht mehr so schnell von den Geiern beseitigt werden konnten, seien die Fälle von Tollwut sprunghaft angestiegen.
«Es geht uns nicht um eine Verherrlichung des Gänsegeiers», betont der Biologe. Er verschweigt nicht, dass Gänsegeier alte, kranke, schwache oder neugeborene Tiere nutzen können, auch wenn sie noch am Leben sind. Ende August 2022 haben Gänsegeier an einem noch lebenden, neugeborenen Kalb gefressen, das in der Folge wegen seiner schweren Verletzungen eingeschläfert werden musste. Unbeaufsichtigte Geburten auf Alpweiden sind daher ein Risiko, auch wenn sich die Geier in der Regel primär für die Nachgeburt interessierten. Zentral sei aber, dass die Aasfresser soweit bekannt kaum gesunde, wehrhafte oder verteidigte Tiere angreifen und töten, um sich Nahrung zu verschaffen. Das sei der grundsätzliche Unterschied zu Jägern wie dem Wolf. Auch beim SAV geht man nicht davon aus, dass Gänsegeier Nutztiere angreifen. Falls Gänsegeier aber Abstürze verursachten, müssten entsprechende Entschädigungen möglich sein, hält SAV-Geschäftsführerin Selina Droz fest.
Es ist der Vogelwarte ein Anliegen, dass beim Gänsegeier nicht derselbe Fehler gemacht wird wie beim Bartgeier. Als «Lämmergeier» verschrien, missinterpretierte man sein Verhalten und rottete ihn Ende des 19. Jahrhunderts mit Abschussprämien in der Schweiz aus. Heute wisse man aber, dass er harmlos sei. Mittlerweile fliegt der auf die Verwertung von Knochen spezialisierte Aasfresser wieder durch hiesige Berge, dank eines gross angelegten Wiederansiedlungsprojekts durch die Stiftung Pro Bartgeier. «Nun darf nicht der Gänsegeier vorverurteilt werden, bevor eindeutige Belege vorhanden sind», plädiert Rey.
«Es fehlen Grundlagen dazu, was machbar wäre.»
SAV-Geschäftsführerin Selina Droz zu Möglichkeiten bei Problemen mit Gänsegeiern.
Nächste Schritte klären
Gänsegeier gehören nicht zu den jagdbaren Arten und sind somit geschützt. Sollte doch ein problematisches Verhalten gegenüber Nutztieren bewiesen werden, wären nächste Schritte zu klären. «Eine Regulierung wie bei Grossraubtieren war bei Vögeln kaum je ein Thema», sagt Livio Rey. «Es fehlen bisher Grundlagen dafür, was von Behördenseiten machbar wäre», so Selina Droz. Gegebenenfalls werde der SAV dazu mit Bund und Kantonen Kontakt aufnehmen.
Rey rät Schafhalten, ihre Beobachtungen mit Videos festzuhalten. «Auch die Vogelwarte hat ein Interesse daran, dass Fälle dokumentiert werden.» Meldungen über Vorfälle seien genau zu prüfen, v. a. der Zustand eines Nutztieres beim Eintreffen der Geier. Nur so sei es möglich, den Gänsegeier, sein Verhalten und allfällige Massnahmen nüchtern zu diskutieren.

