Abo «Wozu brauchst du Lohn? Du hast ja Kost und Logis und erst noch eine schöne Aussicht!» Damit gab sich eine Bäuerin lange ab. Bis sie die Demütigungen nicht mehr aushielt und ging. Schicksalsgeschichte «Mami lauf weg, Grossvater kommt!» Wednesday, 18. May 2022 «Im siebten Ehejahr schlug mich mein Schwiegervater zum ersten Mal. Ich hatte seine Anweisungen nicht befolgt, da mir mein Mann andere gegeben hatte. Als mein Schwiegervater mit seinen Beschimpfungen nichts erreichte, schlug er mich mit der Faust in die Brust. Zweimal. Mein Mann stand daneben, drehte sich um und ging weg.»  

Dies ist ein Auszug aus einer kürzlich publizierten Folge unserer «Schicksalsgeschichten». Eine gewaltbetroffene Bäuerin schilderte darin anonym ihren Leidensweg – der Artikel mit dem Titel «Mami, lauf weg, Grossvater kommt» hat unsere Leser(innen) sehr bewegt, wenn man den Online-Klickzahlen Glauben schenkt.

Alle fünf Wochen eine Tote

Häusliche Gewalt verursacht bei den Opfern und ihren Angehörigen ausserordentlich grosses Leid und hat hohe Folgekosten für die Gesellschaft. Es sind hauptsächlich Frauen betroffen, aber auch Männer (siehe Grafik). 2020 hat die Polizei rund 19 341 Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt registriert. Alle fünf Wochen stirbt eine Frau wegen häuslicher Gewalt. Kinder sind ebenfalls Opfer, auch dann, wenn sie Zeugen derartiger Gewalt sind, was sie fürs ganze Leben schädigen kann. 2020 verloren neun Kinder ihr Leben wegen eines gewalttätigen Elternteils.

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Istanbul-Konvention

In der Schweiz ist am 1. April 2018 die Istanbul-Konvention in Kraft getreten. Sie soll sicherstellen, dass Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt europaweit auf einem vergleichbaren Standard bekämpft werden. Gemäss der Konvention beinhaltet häusliche Gewalt alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partner(innen). Unabhängig davon, ob der Täter oder die Täterin denselben Wohnort hat oder hatte wie das Opfer:

  • Physische Gewalt: Zum Beispiel einen Gegenstand nachwerfen, stossen, packen, schütteln, fesseln, ohrfeigen, beissen, treten, schlagen, verprügeln, würgen.
  • Psychische Gewalt:z. B. unter Androhung von Gewalt zu etwas zwingen, mit Waffen drohen oder Waffen einsetzen, abpassen, nachstellen, kontrollieren, isolieren, beschimpfen, beleidigen, demütigen.
  • Sexuelle Gewalt: Alle sexuellen Handlungen, welche unter Einsatz von Drohungen oder Gewalt aufgezwungen werden (auch in Ehe und Partnerschaft).
  • Ökonomische Gewalt:z. B. Arbeitsverbot, Lohn wegnehmen, Geld vorenthalten, Bank-/Postkarte wegnehmen.
  • Soziale Gewalt:Kontakt zu Familie und Freund(innen) verbieten, jemanden einsperren, daran hindern, die Wohnung zu verlassen oder aussperren, daran hindern, die Wohnung zu betreten.

Hier gibt es Hilfe und Beratung

Erfahren Sie Gewalt in Partnerschaft und Familie? Brechen Sie Ihr Schweigen. Zögern Sie nicht, Hilfe zu beanspruchen. Kennen Sie Menschen in Ihrem Umfeld, die von Gewalt betroffen sind? Sehen Sie nicht weg. Ermutigen Sie die Person, Hilfe zu holen und sich beraten zu lassen. Rufen Sie in akuten Situationen die Polizei unter der Telefonnummer 117.

In allen Kantonen existieren Beratungsstellen, die Opfer häuslicher Gewalt beraten und nach den Möglichkeiten des Opferhilfegesetzes unterstützen. Sie sind für Frauen und Männer und/oder Kinder und Jugendliche da (siehe Linkliste). 

Die Opferhilfe Schweiz berät kostenlos, vertraulich und anonym – in der ganzen Schweiz: www.opferhilfe-schweiz.ch

Bei der Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein findet man eine Auflistung aller Frauenhäuser: www.frauenhaeuser.ch

Gewalt ist nicht männlich, sondern menschlich. Auch Männer sind von häuslicher Gewalt betroffen und finden beim Verein Zwüschehalt Zuflucht (falls nötig mit ihren Kindern): www.zwueschehalt.ch

Personen, die selbst Gewalt ausüben/anwenden, finden hier mögliche Anlaufstellen, um sich beraten zu lassen: www.fvgs.ch

Manchmal möchte man mit jemandem reden. Anonym und rund um die Uhr erreichbar per Telefon (Tel. 143), Chat und Mail ist die dargebotene Hand: 143.ch

Wenn sich ein Ehepaar über die Regelung des Getrenntlebens nicht einigen können oder sich einer der Ehepartner einer Lösungsfindung gar entzieht, regelt das Eheschutzverfahren die Folgen. Infos dazu auf: www.ehescheidung.ch

Sexualstrafrecht in Revision

Am 14. Dezember 2018 hat das Parlament beschlossen, gewaltbetroffene Personen mit Massnahmen im Zivil- und Strafrecht besser zu schützen. So entscheidet neu die Strafbehörde, ob ein Verfahren eingestellt wird. Damit kann vermieden werden, dass sich das Opfer unter dem Druck des Täters für eine Einstellung entscheidet. Diese Regelung trat am 1. Juli 2020 in Kraft. Neu können zudem Rayon- oder Kontaktverbote mit elektronischen Armbändern oder Fussfesseln überwacht werden. Diese Bestimmungen traten am 1. Januar 2022 in Kraft.

Nicht mehr nur Frau Vergewaltigungsopfer

Das Parlament berät derzeit über die dringend nötige Revision des Sexualstrafrechts. Der Ständerat hat kürzlich zwei wesentlichen Verbesserungen zugestimmt: Der Straftatbestand des sexuellen Übergriffs wird geschlechtsunabhängig werden.

Bis jetzt war im Gesetz nur die Frau als Opfer erwähnt. Wenn das Opfer künftig Nein sagt, sich der Täter aber darüber hinwegsetzt, gilt das als Vergewaltigung, auch wenn er/sie keine Gewalt anwendet. Amnesty International und diverse Frauenorganisationen plädierten vergeblich für die «Nur-Ja-heisst-Ja»-Regelung.