Es ist Freitagmorgen, der 7. Oktober 2022. Damaris Saurer aus Heimenschwand BE ist in der Küche beschäftigt und hört im Radio, dass der Leissigen-Tunnel im Berner Oberland wegen eines Verkehrsunfalls gesperrt ist. Zwei Lieferwagen sind involviert, der Unfall fordert ein Todesopfer. Kurze Zeit später kommt Niklaus Saurer in die Küche und sagt zu seiner Frau: «Hast du das von dem Unfall im Radio auch gehört? Ich hoffe, es ist nicht unser Simon.» – «Nein», beruhigt ihn seine Frau. «In den Unfall sind zwei Lieferwagen verwickelt, Simon ist ja mit seinem Subaru unterwegs», sagt die Bäuerin gelassen.
Im Hintergrund ertönt ein Lied
Wir sitzen in der Küche. Auf dem Tisch liegt ein Fotoalbum von Simon, eine Danksagungskarte und am Rand brennt eine Kerze. Im Hintergrund ertönt das Lied «How Do I Say Goodbye» (Wie verabschiede ich mich) im Radio. «Der beste Freund von Simon hat das Lied in einem Video über ihn als Hintergrundmusik gewählt», sagt Damaris Saurer. Seither höre sie das Lied immer wieder.
Simon, 20-jährig, hat drei ältere Schwestern, er kam als Nachzügler auf die Welt. «Er war ein aufgeweckter Bursche, immer fröhlich, immer zufrieden. Er lebte im Jetzt, ihn interessierte nicht, was nächste Woche kommen würde», erzählt seine Mutter auf die Frage, wie Simon war. «Er hatte seit Kurzem eine Freundin, wohnte mit ihr in unserem Stöckli», so sein Vater. Simon lernte Landwirt, hatte im Sinn, einmal den elterlichen Betrieb zu übernehmen.
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Jeden Tag hat er genossen
Vorher wollte er aber noch ein wenig Geld verdienen, ging auswärts einer Arbeit nach. An den Wochenenden war er zu Hause, war eine grosse Hilfe auf dem Betrieb. Simon war es wichtig, dass es seinen Freunden und seiner Familie gut ging, dann erst kam er an die Reihe. Er war zufrieden, wenn er am Abend sagen konnte, es sei ein schöner Tag gewesen, einer, den er habe geniessen können. «Als ob er gewusst hätte, dass er nicht lange leben sollte, hat er jeden Tag genossen, hat die Leute so genommen, wie sie sind», erinnert sich seine Mutter. Er habe ein unglaubliches Gspüri gehabt für Personen, die es nicht leicht in ihrem Leben hatten. «Natürlich hat er mich manchmal aufgeregt, wenn ich einen Schlüssel in der Werkstatt suchen musste oder er alles liegen liess», so sein Vater. Simon liebte Maschinen, vom Traktor bis hin zum Ladewagen. Ja, an den Wochenenden war er auf dem Hof quasi der Traktorführer. Obwohl Simon die Maschinen den Kühen vorzog, war er auch gerne im Stall anzutreffen. Seine sensible Art übertrug sich auch auf die Tiere. Kein Fluchen war zu hören, wenn er jeweils am Melken war.
Sein geliebter Subaru
Doch an seinen geliebten Subaru kamen weder die Kühe noch der Traktor heran: Sein Auto war alles für ihn, er pflegte es und war sogar in einem Subaru-Club mit dabei. «Vorher hat er einmal einen BMW gefahren. Eines Morgens kam er in Trainerhose die Treppe runter, sein Schlüsselbund aus der Tasche hängend», erzählt die Mutter die Geschichte. Sie fragte ihn, was das sein solle, das passe doch nicht zu ihm. «Die BMW-Fahrer sehen so aus», war seine Antwort. Damit ihn wirklich alles zu einem BMW-Fahrer machte, ging Simon noch zum Friseur und liess sich eine «BMW-Frisur» verpassen. «Als er dann mit dem BMW zu einem Subaru-Treffen ging, war der BMW schnell wieder verkauft», lacht sein Vater mit Tränen in den Augen.
Doch der 7. Oktober 2022 sollte ein Schicksalstag für die Bauernfamilie werden. Um 13.30 Uhr klingelt es an Saurers Türe. Die Bäuerin öffnet, die Polizei stand da. «Haben Sie einen Sohn, der Simon heisst?», fragte ein Beamter. «Ja», antwortete Damaris Saurer. «Ihr Sohn ist bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen», hiess es schonungslos. «In einem solchen Moment kannst du einfach nichts sagen, funktionierst nur noch und bist in deinen eigenen Gedanken», so das Ehepaar. Bevor die Polizei wieder ging, kam ein Careteam auf den Hof. «Nicht mal das Careteam konnte uns in dieser Situation helfen», sagt Niklaus Saurer. «Ich war froh, dass ich am Abend wieder in den Stall zu meinen Kühen konnte, dort etwas Ablenkung fand und meine Gedanken ordnen konnte», so der Landwirt.
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Im Radio falsch verstanden
Damaris Saurer hat an diesem Morgen die Radiomoderatorin wahrscheinlich falsch verstanden. Nicht zwei Lieferwagen waren in den Unfall involviert, sondern ein Lieferwagen und der Subaru von Simon. «Er fuhr an diesem Morgen wie gewöhnlich kurz nach sechs Uhr von zu Hause weg Richtung Wilderswil zur Arbeit», erzählt die Mutter den Verlauf des tragischen Morgens. Aus unerklärlichen Gründen geriet sein Auto im Leissigen-Tunnel auf die Gegenfahrbahn und Simon fuhr frontal in einen entgegenkommenden Lieferwagen hinein. «Die Radiomoderatorin habe an diesem Morgen noch gesagt, das müsse jetzt für die Angehörigen ein furchtbarer Moment sein, wenn sie die Nachricht vom Unfall erhalten würden. Dabei war es unser Sohn», sagt die Mutter nachdenklich.
«Die vielen Gespräche haben uns sehr geholfen».
Damaris Saurer, die Mutter von Simon, erinnert sich.
Brach sich das Genick
Simon brach sich beim Unfall das Genick. Er war so fest in seinem Subaru eingeklemmt, dass man das Unfallauto zuerst in eine Autogarage transportieren musste, um ihn dort herauszuschneiden. «Wir wissen bis heute nicht, ob er am Steuer eingeschlafen ist oder ob er ein medizinisches Problem hatte», so seine Mutter. Man wisse nur, dass er nicht zu schnell unterwegs war und dass weder Alkohol noch sonstige Substanzen in seinem Blut feststellbar waren. «Obwohl der Unfall uns bis heute stark getroffen hat, geht das Leben weiter, es muss irgendwie», sagen die Eltern am Küchentisch. «Das Traurige dabei ist, dass am Unfallabend eine Kuh ein Kalb auf die Welt brachte und wir am gleichen Abend noch unseren Sohn im Leichenhaus identifizieren mussten», so sein Vater. «Ich weiss nicht, was es Schlimmeres gibt als den Anblick deines toten Kindes», sagt die Mutter.
Die Trauer und die Anteilnahme im Dorf Heimenschwand waren gross, riesengross sogar. Über 600 Trauerbriefe erhielten Saures von überall her. «Uns riefen Leute an, die wir nicht mal kannten. Leute, die das gleiche Schicksal erlebt hatten», so die Familie. «Die Briefe, die Anteilnahme und vor allem die Gespräche mit Betroffenen haben uns in dieser schweren Zeit extrem geholfen», sagen Damaris und Niklaus Saurer einstimmig. «Darum haben wir auch diesem Artikel zugestimmt, damit wir anderen Personen helfen können. Unsere Türe steht offen für Leute, die Ähnliches erlebt haben oder noch erleben müssen», hält die Bäuerin fest. Damaris Sauer verarbeitet die Trauer im Glauben, während ihr Mann eher im Stillen oder bei seinen Kühen den Trost findet.
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Der schlimmste Moment
Für Niklaus Saurer war es der schlimmste Moment, als sein Sohn auf dem Friedhof in Heimenschwand beerdigt wurde. «Als man den Sarg in das Grab hinunterliess, hat es mir mein Herz gebrochen und mich innerlich fast zerrissen», so der Landwirt. Im kleinsten Familienkreis habe man die Beerdigung abgehalten, Simons Freunde haben währenddessen eine eigene Abdankung durchgeführt. Das Grab von Simon liegt zufälligerweise neben dem seines Grossvaters. Noch steht sein Name auf einem provisorischen Holzkreuz. «Wir haben etwas Schönes schnitzen lassen, etwas, das zu Simon passt. Ein Grabmal mit Simons Subaru eingeschnitzt», sagt seine Mutter. «Das Grabmal wird sicher in den nächsten Tagen kommen», ergänzt der Vater. «Obwohl wir jetzt unseren Hofnachfolger verloren haben, lebt Simon in unseren Herzen weiter. Weiter, bis auch wir wieder bei ihm im Himmel sind», sagen seine Eltern traurig.
Wir haben alle am Tisch geweint
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Kommentar von Peter Fankhauser
Diese Geschichte ging auch mir mächtig unter die Haut. Als Damaris Saurer die Bilder von Simon auf den Tisch legte und ihr Mann Niklaus Saurer erzählte, dass es ihm fast das Herz zerbrach, als man den Sarg von seinem Sohn ins Grab hinunterliess, haben wir alle drei am Küchentisch geweint.
Ich habe die Familie Saurer vorher nicht gekannt. Durch Zufall traf ich sie im März an der Agrimesse in Thun BE an unserem Stand der BauernZeitung. Wir kamen ins Gespräch und ich fragte Niklaus Saurer nach seiner Hofnachfolge. Der Rest ist Geschichte. Ich fragte, ob ich vorbeikommen dürfe, sie sagten ja.
Es ist schon furchtbar genug, wenn man ein Familienmitglied verliert, wenn es noch das eigene Kind ist, ist es noch einmal eine andere Dimension. Jeder geht mit seiner Trauer anders um, weiss, was für ihn in dieser Zeit am besten ist. Da können Aussenstehende noch so viele Ratschläge geben. Obwohl mich dieses Treffen tief berührt hat, war es eine grosse Herausforderung und nicht ganz leicht, eine solche Geschichte auf Papier zu bringen. Vielen Dank, Damaris und Niklaus Saurer, seither sind meine Probleme keine Probleme mehr.