«Lioba, Li-o-o-ba», ruft Antoine zum zweiten Mal. Nun zupfen auch die hinteren Kühe die letzten Halme und machen sich auf den Weg zum Alphirten. Weit unten glitzert der Greyerzersee in der Spät-Nachmittags-Sonne. Der Moléson verliert langsam die letzten Schneereste. Antoine hört in diesem Moment, wie Glocken der Kühe auf dem Weg zum Chalet den vertrauten Rhythmus schlagen.
Le Ranz des Vaches: Die Interpretation von Bernard Romanens
Le Ranz des Vaches ist wichtiger Bestandteil vom Fetes des Vignerons in Vevey. Die Interpretation, die Bernard Romanens 1977 sang, ist bis heute auffindbar; das Lied selbst ist seit 200 Jahren Teil des Winzerfestes.
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Animiert von diesem Moment setzt er fort und singt «lè j’armayi di Kolonbète de Bon matin chè chon lèvâ» (die Sennen von Clombettes sind am morgen früh aufgestanden). Seine rechte Hand ruht auf der Schulter von Philippe. Der kleine Junge sieht zu seinem Vater auf und wagt es nicht, den melancholischen Gesang, der im langsamen Takt der Kühe und dem Idyll der Greserzer Voralpen zu einer Hymne verschmelzt, zu unterbrechen. Erst nach dem Melken, als Antoine die Hüttensuppe schöpft, fragt Philippe: «Papa, was bedeutet Lioba und weshalb kommen die Kühe immer, wenn du das singst?» Antoine muss schmunzeln; auch er hatte diese Frage vor Jahren gestellt, als sein Vater mit derselben Melodie den Reigen der Kühe zum Melken zur Hütte bat. Nun war es an ihm seinem Sohn die Magie des «Ranz des Vaches» zu verraten.
"Le Ranz des Vaches" auf Deutsch übersetzt:
"Le Ranz des Vaches" wird im sogennanten Patois gesungen - das ist ein französischer Dialekt, der im Greyerz noch gesprochen wird. Übersetzt wird das Lied wie folgt:
Wir Chüejer z’Colombettes. Wir tüe am Morge früe ufstah.
Und wie mer da zum Bärgbach chämme, Keine va üs cha druber ga.
Du guata Peti, was isch zmache? Da sy wer jetzu übel dra.
Luof gschwünn i ds Tal und bstöll büm Pfarrer. A Mäss, für i der Chülha zha!
Der Peti dechlet zwägne Füesse. Dem Pfarrer zue u trüfft nen a.
Dä siet ihm: Nu, i wüll nüöch hälfe, Doch söllt i just a Chäs de ha.
U das a füösta, ghörst, my Peti!Und Pyeter siet enandernah:
Thüet üöwi Chöchi zuen es schücke, Sie muess fergwüss a tolla ha.
Mys Metli ist halt gar es hübsches, Äs chäm üöch a, ihr tätets bha.
Nih, nih, Herr Pfarrer, glaubets numme: Wir wüsse scho, was süöttigs cha.
Vo wäge drye Müntschi öppa. Muess ds Metli chum i Büchstuhl stah.
Un üös am Chülheguet zvergrüfe, Das chunt üös narisch no nit a.
So gang itz hem, my guata Peti, I bäte ds Ave Maria.
Gott wölli üöch der Chäs la grate! Doch müesst ihr flüssig zChülhe gah.
Der Peti chunt itz zrugg zum Wasser, U gugg, as hät us druber glah.
Da het mu, chum vermohltes ghäbe, Ds Chaslüber just i ds Chössi ta.
Refrain
Für die Strophen 1, 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 19:
Hüopa, hüopa, chämet mer na!
Chämet doch allu, wyssu, schwarzu,
rothu, tschäggetu, jung u altu,
unter de Icha wull n’ üöch mälche,
unter der Oscha tuen i chäse
Für die Strophen 2, 4, 6, 8, 10, 12, 14, 16, 18
Hüopa, hüopa, chämet mer na!
Die mit de Schölle vorna ha sölle!
Chalber u Ründer A bitz bas hünder.
Hüopa, hüopa, chämet mer na!
Mundartfassung von Hans Nydegger, aus dem Schweizer Liederbuch 1892
«Vor langer langer Zeit schon, haben der Vater meines Vaters und davor auch der seine mit Lioba die Kühe zur Alphütte gebeten.» Philippe versucht sich erstmals im langezogenen Li-o-o-ba. Antoine muss grinsen. Er wagte es als kleiner Junge nicht, einfach zu probieren und stand jeweils alleine hinter den Tannen. Niemand sollte hören, wie er den melancholischen Ruf übt. «Und von was erzählt das Lied?» Philippe hat den Löffel beiseite gelegt, denn er wusste: das war eine bedeutende Frage. Sein Vater jedoch bat ihn, fertig zu essen. Er würde die Geschichte nach dem Abendessen, vor dem Chalet auf der Bank mit Blick auf die Landschaft unterhalb des felsigen Spitzes des Dent de Broc besser verstehen.
Nach dem Abendessen setzt sich Antione auf die Bank, blinzelt in die untergehende Sonne und beginnt zu erzählen: «Im Ranz des Vaches geht es um Pierre und um seine Kühe. Als Pierre den Bach mit seinen Tieren nämlich nicht passieren konnte, musste er ins Tal um den Priester zu bitten, eine Messe zu lesen, damit man den Bach überqueren könne. Der Priester verlangte einen Käse als Gegenleistung. Pierre war einverstanden und wollte, dass der Priester seine Magd schickte, damit sie den Käse von der Alp nach unten bringe. Der Handel wurde beschlossen und noch während Pierre zur Alp hinaufstieg, entsendete der Pfarrer ein Ave Maria. Kaum war Pierre am Bach angelangt, war dieser passierbar. Für den Rest des Sommers brachte Pierre eilig und brav die Milch zum Käse-Kessel, kaum war sie gemolken.»
"Le Ranz des Vaches" am Fête des Vignerons in Vevey VD
"Le Ranz des Vaches" ist seit 200 Jahren Teil des Winzerfestes in Vevey VD. Das Fête de Vignerons, das Winzerfest, findet ungefähr alle 20 Jahre in Vevey VD statt. Und das seit 1797, also seit 222 Jahren. Die Weinbruderschaft «Confrérie des vignerons» organisiert den Grossanlass. Die Feierlichkeiten begannen als kleiner Umzug und als 1797 die Oekonomische Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern die Bruderschaft beeinflusste, beschloss diese, die besten Weinbauern zu ehren und daraus ein Fest zu machen. Zum Fest gehören nebst dem Weinbau auch die Ehrung der Viehwirtschaft und des Ackerbaus. Also der typischen landwirtschaftlichen Arbeiten der Region. Das zwölfte «Fête des Vignerons» findet vom 18. Juli bis 11. August 2019 statt. Das riesige Fest beinhaltet Umzüge und Spektakel in der Arena mit 20 00 Sitzplätzen und täglichen Höhepunkten. Ungefähr eine Million Menschen werden während den 20 Tagen erwartet. Das Fest gehört zum UNESCO Kulturerbe.
Erstmals in der langjährigen Geschichte des Fête des Vignerons hat jeder Kanton seinen eigenen Gastauftritt. Alle Kantone werden an ihrem jeweiligen Tag einen Umzug veranstalten, ihre regionalen und landwirtschaftlichen Produkte präsentieren und kulturelle Auftritte ihrer Gegend zeigen. Vevey wird damit zur «Sommer-Hauptstadt der Schweiz.»
Weitere Informationen und Tickets für die Arena finden Sie hier.
Philippe hat aufmerksam zugehört und zeigt nun in Richtung Vanil Noir. «War es dieser Bach?» Antoine hält einen Moment inne, zögert mit seiner Antwort. «Schon möglich, mein Sohn. Auch dieser Bach schwillt manchmal so stark an, dass sogar Elodie ihn nicht passieren kann.» Ob er deshalb auch zum Pfarrer gehen würde, will Philippe wissen. «Nein mein Lieber, das nicht. Aber ich singe dann wie mein Vater, mein Urgrossvater…» Philippe nickt. «Lioba» rufen beide. In der Ferne hebt Elodie kurz den Kopf. War der Ruf ernst gemeint? Als sie Philippe und Antoine lachen hört, weiss sie, dass sie weiterfressen kann. Das Lioba ist gerade an die nächste Generation weitergegeben worden. Sacha Jacqueroud