Er ist ein strammer Mann. In Gummistiefeln und blauen Überhosen geht Ruedi Glättli (39) an den Kühen vorbei, schiebt mit dem Fuss beiläufig etwas Heu zurück ans Fressgitter. Auch wenn er nicht lacht, ziehen seine Mundwinkel immer leicht nach oben. «Wollen wir Spazieren gehen?» «Lieber nicht», antwortet er. «Setzen wir uns hinters Haus.»
Ruedi Glättli wohnt oberhalb von Bonstetten ZH. Von hier aus sieht man über das ganze Knonaueramt. Bei guter Sicht sogar bis an die Urner Alpen. Seine rund 30 Kühe und Rinder kann der Landwirt vom Sitzplatz aus beobachten. Kaum zu glauben, dass einem in dieser Idylle die Arbeit über den Kopf wachsen kann. «Bis zu dem Tag, als ich das Burnout hatte, hätte ich es mir auch nicht vorstellen können», sagt Glättli.
Verschuldet und überarbeitet
Der gelernte Landwirt wuchs hier schon auf. Nach der Oberstufe arbeitete er auf dem heimischen Betrieb. Der Vater war gesundheitlich angeschlagen und angewiesen auf die Hilfe von Ruedi.
2009 übernimmt Glättli den Betrieb von seinem Vater. Kurz darauf stirbt dieser. Der Hof ist in einem desolaten Zustand. Das Dach des Schopfs ist kaputt. Das Gülleloch ist zu klein. Ein neuer Stall müsste her. Im verlotterten Bauernhaus wohnt Mutter Glättli. Ruedi lebt in einer Wohnung, unten im Dorf. Für die Hofübernahme und Reparaturen verschuldet er sich hoch:
«Ich dachte, wenn man jung ist, geht das schon.»
Ruedi Glättli, Landwirt
Nach mühsamer Bewilligungsphase baut er seiner Mutter ein Haus neben dem Hof und will mit seiner jungen Familie ins Elternhaus ziehen. Weil das Geld fehlt, baut und renoviert er eigenhändig. «Den Betrieb führte ich während Jahren quasi nebenbei.» 31 Hektaren. 40 Milchkühe und Rinder. Fünf Ackerkulturen. Ein Erdbeerfeld. Seit sein Vater gestorben ist, arbeitet Glättli vorwiegend alleine. Die Frau zieht die Kinder auf. Sie unterstützt ihn, wo es nur geht.
Todmüde, schlaflos, stumpf
Glättli wird bei der Hofübergabe ein landwirtschaftlichen Berater aufgedrängt, der ihm die folgenden Jahre zur Seite stehen soll. Die beiden haben das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Das Elternhaus entpuppt sich bei der Renovation als Loch ohne Boden. Glättli ist Tag und Nacht bei der Arbeit. Es bremst ihn niemand. «Klar, ich lief oft am Limit. Aber ich dachte mir nichts dabei.» Der Berater rät ihm sogar, wegen finanzieller Probleme zusätzlich noch Auswärts zu arbeiten.
Nur seine Schwiegermutter mahnt stets, weniger zu tun. Glättli hört nicht auf sie. Er will sich keine Baufirma leisten. Das Geld spart er lieber für einen neuen Stall – noch immer. Mitte Mai 2015 stehen strenge Tage an: Erster Schnitt und Einsilieren. «Am Abend war ich todmüde – aber ich konnte nicht schlafen. Ich brachte kein Auge zu.» Glättli vergeht der Appetit. Es ist ihm alles gleichgültig. An ein Burnout dachte er nie. «Man sagt immer, ‹die mit Burnout hören die Vögel nicht mehr pfeifen›. Aber ich hörte sie noch immer.» Heute kann Glättli darüber lachen – wäre es nur bei den Vögeln geblieben.
Wenn es kribbelt im Arm
Burnout ist keine Modeerscheinung und auch keine Managerkrankheit. Laut einer Studie von Agroscope und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften sind 12 Prozent aller Schweizer Landwirte Burnout-gefährdet. Doppelt so viele wie in der Allgemeinbevölkerung. Wieso sind Bäuerinnen und Bauern besonders gefährdet? Bei Burnout spielen mehrere Umstände eine Rolle. Die finanzielle Situation, der allgemeine Gesundheitszustand, wenig Freizeit, Zeitdruck. Alles Einflussfaktoren, die zum Burnout führen können – und im landwirtschaftlichen Alltag verbreitet sind. Nach der dritten schlaflosen Nacht dreht Glättli fast durch:
«Ich konnte weder sitzen noch liegen… Es ging einfach nichts mehr.»
Ruedi Glättli, Landwirt
Seine Frau bringt ihn ins Spital. Glättli ist komplett ausgebrannt. Mit 33 Jahren. «Es kribbelte überall in meinen Armen. Das Nervensystem spielte komplett verrückt», erinnert er sich. «Das unangenehmste Gefühl, das ich je hatte.» Dass er zu Hause einen Hof voller Arbeit hätte, ist ihm in dem Moment komplett gleichgültig.
Keine echte Hilfe mehr
Wie fühlt sich ein Burnout an? «Im Spital fingen meine Gedanken an zu kreisen. Ich konnte mich kaum auf eine Sache konzentrieren. Der Kopf gibt einfach keine Ruhe.» Auch der Körper spielt verrückt. Ins Spital-Café nebenan gehen kann er nicht mehr. «Es war wie die Vorstufe einer Lähmung.»
Um den Hof musste sich Glättli keine Gedanken machen. «Meine Freunde, Nachbarn und die Familie sind sofort eingesprungen, haben gemolken, gemistet und den Mais gesät. Die Hilfsbereitschaft war unglaublich.» Nach vier Wochen kann er erstmals wieder nach Hause. Für seine damalige Frau ist die Situation sehr belastend. Ruedi ist lange keine echte Hilfe mehr. Nach kurzer Arbeit muss er wieder pausieren.
Zwei Jahre nach dem Burnout will Glättli wieder voll anpacken. Seine Kühe lebten den Winter über bei anderen Bauern im Knonaueramt. Jetzt melkt er wieder selbst. Drei Monate lang ging das gut. Dann übermannte ihn die Krankheit. Es folgt die schlimmste Zeit seines Lebens. Die einfachsten Arbeiten überfordern ihn. Fernsehen schauen oder Zeitung lesen: unmöglich. Depressionen plagen Glättli. In einem fünfmonatigen Klinikaufenthalt und dank seines starken Umfelds kämpft er sich zurück ins Leben. Trotz vieler Rückschläge.
Das Positive kultivieren
Mit einigen seiner Milchkühe, die bei Nachbarn untergebracht waren, hat er sich eine Mutterkuhherde aufgebaut. Ein pensionierter Freund hilft ihm heute auf dem Hof. Auf Spaziergänge verzichtet er – auch an anderen Tagen. «Sonst reicht die Energie nicht für die Arbeit.» Eine Arbeit, die er liebt. Sie gibt ihm Kraft. Alles was Glättli belastet, hat er aus dem Weg geräumt. Er hat gelernt, auf seinen Körper zu hören und positive Gedanken zu kultivieren. «Ich habe in meinem Leben neue Prioritäten gesetzt und bin glücklich mit dem, was ich habe.»
Die ganze Auswertung des landwirtschaftlichen Sorgenbaromenters der BauernZeitung finden Sie hier.
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