An diesem Samstag steht Roc Muoth früh auf und überlegt sich, was alles passieren könnte. «Die Verantwortung, dass alle heil von der Alp herunterkommen, liegt bei mir», sagt er beim Morgenkaffee an seinem Küchentisch. Denn heute ist in Brigels GR ein besonderer Tag: die «Scargada», wie der Alpabzug auf Romanisch heisst.

Ein erfahrener Alpchef mit viel Verantwortung

Der 58-jährige Milchbauer Roc Muoth kennt den Ablauf genau, schliesslich war er schon 30-mal dabei. So lange gibt es den Abzug in der heutigen Form. Und trotzdem blickt er dem Tag auch mit Anspannung entgegen. Die fünf Alpen, die an dem Tag absteigen, gehören der Gemeinde Brigels, die Bauern haben sie in Pacht.

Auf der Alp Quader verbringen jeweils 140 Milchkühe und sieben Galtkühe den Sommer. In den drei Monaten geben sie 90 000 Kilogramm Milch. Diese fliesst über eine Pipeline direkt in die Sennerei, die daraus Biokäse herstellt. Als Alpchef der Alp Quader hat Roc Muoth eine grosse Verantwortung. Er muss dafür sorgen, dass alle Menschen und Tiere unbeschadet ins Tal kommen. Am Ende der Saison sind es 80 Milchkühe, Dutzende Helfer und ein Alphund – ein anspruchsvolles Unterfangen.

«Sie wollen schnell runter ins Tal, denn hier ist das Gras knapp.»

Milchproduzent und Alpmeister Roc Muoth, Brigels

Er selbst hat in den 1980er-Jahren drei Sommer auf der Alp verbracht. «Das war ein Traum», erinnert er sich. Daher sei er später gerne Alpmeister geworden. Nun verbringt er die Sommer aber jeweils im Tal, um zu heuen und gemeinsam mit den anderen Bauern die Wasserversorgung auf den Weiden zu verbessern.

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Einst als «modernste Alp Europas» bekannt

Viel Zeit zum Kaffeetrinken bleibt Roc Muoth an diesem Morgen also nicht. Er lädt Glocken und Holzstöcke in sein Auto und kurvt die steile Strasse zur Alp Quader hoch, «seinem Herz», wie er die Alp auch liebevoll nennt. In den 1970er-Jahren galt diese wegen ihrer Melkinfrastruktur sogar als «modernste Alp Europas». Der Alpabzug in Brigels ist nicht nur für die Bauern wichtig, die ihre Tiere nach Hause bringen. Vielmehr hat sich der Anlass zu einem wahren Touristenmagneten entwickelt, der in die ganze Region ausstrahlt.

Laut der lokalen Tourismusbehörde sind an dem Wochenende jeweils alle sechs Hotels im Dorf ausgebucht. Die Gäste reisen dabei aus Ländern wie Amerika, Australien oder Dänemark an. Für das 700-Seelen-Dorf bedeutet das viel Vorbereitung.

Roc Muoth und die anderen Alpmeister folgen einem strikten Zeitplan. Die fünf Alpen laufen nacheinander von unterschiedlichen Orten aus ins Dorf. Die Alp Quader soll heute am späten Mittag als vierter Zug eintreffen. Für den Weg nach Brigels muss Muoth gut eine Stunde einberechnen.

Am Puls der Älpler und Älplerinnen

Als Roc Muoth am späten Morgen die auf gut 1900 Metern Höhe gelegene Alp Quader erreicht, will er zuerst einmal bei dem Alppersonal «den Puls spüren». Das passt, denn der Bauer arbeitet auch bei der Alpinen Rettung und leistet somit erste Hilfe, wenn das abgelegene Dorf auf Nothilfe wartet. Muoth weiss also, wie man ruhig bleibt, wenn es stressig wird.

Das ist gut, denn die ordentlich aufgereihten Tiere spüren, dass heute ein besonderer Tag ansteht. «Sie wollen jetzt schnell runter ins Tal», sagt Muoth. Das Gras sei hier oben knapp geworden. Grund dafür war der kalte und regnerische Juli. Noch zeigen sich die meisten Kühe geduldig und massieren sich gegenseitig den Kopf. Die ersten zerren aber bereits an ihrem Halfter und signalisieren so ihre Ungeduld.

«Umso wichtiger ist es, dass die Hirten gebührend gefeiert werden.»

Marta Cathomas, Alpabzug-OK, Bäuerin Brigels

Die geduldigen Tiere haben es besser, denn das Schmücken dauert weit über eine Stunde. Das Hirtenpaar hat dafür 30 Helferinnen und Helfer organisiert, von denen viele aus anderen Kantonen und sogar aus dem Tirol angereist sind.

Unter ihnen sind die 60-jährige Sandra Danno und ihr Enkel Gian. Danno kennt den Hirten aus ihrer eigenen Zeit «z’Alp» in einer nahegelegenen Gemeinde. «Ich freue mich, die Tiere gesund nach Hause zu bringen», sagt sie. Und von den vielen Glocken umgeben zu sein – auch wenn man im Tal danach fast taub werde.

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Das Schmücken des Viehs ist orchestriert

Der achtjährige Gian streift ungeduldig mit seinem langen Holzstock um die wartenden Kühe herum. Andere sind mit den Kühen beschäftigt. So hat beim Schmücken der Tiere jeder Helfer und jede Helferin eine bestimmte Aufgabe: Die einen Helfer kümmern sich um die Glocken, die anderen um die Nasenbänder und wieder andere bürsten den Kühen den Schwanz.

«Üf trychlät heizuä», steht auf dem Schellenband

Schon bald übertreffen sich die Tiere mit imposanten Schellen und aufgestickten Sprüchen wie «Üf trychlät heizuä» oder «S'schönst uf Ärdä isch s'Veh i dä Bärgä». Den Höhepunkt bilden jedoch die Blumenkränze, die die Bauernfrauen in den Tagen zuvor aufwändig gebunden haben. Auf der Alp Quader werden fast alle Milchkühe geschmückt. Denn diese lassen sich besser schmücken als Mutterkühe und Jungtiere, die sensibler sind. Doch auch unter den Milchkühen hat es einige, die probieren, ihren Schmuck abzuschütteln, als ob es lästige Fliegen wären.

Als die Kühe fertig eingekleidet sind und sich auch die Hirten in ihre traditionellen Gewänder geworfen haben, kann es endlich losgehen. Roc Muoth fährt mit dem Auto voraus, dann folgen je drei Helfer mit acht Tieren. Das ist zumindest der Plan. Doch die Kühe haben es eilig und drängeln nach vorne, wie auf einer Schulreise.

Ein paar wählen eine Abkürzung über die Weide und halten die Helfer damit auf Trab. Am Schluss marschieren sie aber relativ diszipliniert in einer Reihe und kündigen sich mit ihren Glocken schon von Weitem an. Trotzdem muss Roc Muoth diverse Wanderer, Mountainbiker und Schaulustige aus dem Weg weisen und warnt: «Die Kühe kommen wie Raketen.»

Nach gut einer Stunde ist es so weit: Die Alp Quader zieht pünktlich ins Dorf ein. Mit dem Duft von frischem Gras in der Nase stürmen die Kühe in Richtung Dorfweide, ihre Helferinnen und Helfer laufen beschwingt mit – auf sie warten brutzelnde Würste und kühles Bier. Begrüsst werden die Heimkehrenden von rund 1500 Zuschauern – Einheimischen und Touristen und sogar mit Alphorn-Klängen.

Auf der Weide kommen die Tiere zur Ruhe. Gemächlich ziehen sie ihre Kreise auf der Weide und schnuppern immer wieder an den inzwischen vertrauten Hirten. Nach der Freiheit auf der Alp erwarten sie nun wieder Wärme und Streicheleinheiten im Stall. Mit dem Eintreffen der letzten Alp befinden sich nun gut 600 Tiere wieder im Tal.

Für das Alppersonal geht es hingegen zurück in den Alltag als Sicherheitsmann, Pflegerin oder Praxisassistentin. Die «Scargada» ist für sie daher nicht nur mit Freude, sondern auch mit Sentimentalität verbunden.

Umso wichtiger, dass die Hirten gebührend gefeiert werden, findet Marta Cathomas, Mitglied des Alpabzug-OKs und eine der Bauernfrauen aus Brigels. Sie führt den Essensstand, an dem am frühen Nachmittag bereits die meisten Speisen ausverkauft sind. Doch der Metzger und die Bäckerei liefern bald schon Nachschub.

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Der Alpmeister ist «glücklich bis an Bach aba»

«Unsere Stärke ist, dass wir so eingespielt sind», sagt Cathomas. Insbesondere, da an dem Tag alle 22 Bauern und Bäuerinnen zusammenarbeiteten. «Das macht den Alpabzug in Brigels aus.»

Auch Alpchef Roc Muoth kann am späten Nachmittag durchatmen. «Ich bin glücklich bis an Bach aba», sagt er und winkt den anderen Dorfbewohnern zu. Die ersten Bauern beginnen bereits, ihre zuvor auf den Alpen verteilten Tiere einzusammeln und in den Stall zu bringen. Die meisten Tagesgäste spazieren in Richtung Postauto.

Und Roc Muoth? «Für uns geht es nachher noch weiter», verrät er. Denn ab dem frühen Abend betreibt die Dorfjugend ein Festzelt für Jung und Alt. Auch dieses Jahr werden die Brigelser feiern, bis die ersten Tautropfen glitzern und die Kühe wieder vom Gras träumen.