«Morgen geht’s los!», schreibt mir eine Bekannte am Sonntagabend, die vergangenen Montag, am 11. Mai, ihr Lädeli wieder öffnen durfte. «Ob wohl jemand kommt?», fragt sie sich weiter. Sie hätten das Geschäft «coronasicher» (schafft es dieses Wort nächstes Jahr in den Duden?) gemacht und seien ein bisschen aufgeregt. Die Zeit dazwischen hätte ihrem Mann und ihr gut getan. Sie fühlten sich wie zur Schulzeit, als sie nach den Ferien das Kindergartentäschli wieder packen durften.
Die unterschiedlichen Gefühle
Eine andere Frau, die mit ihrem Mann zur Risikogruppe gehört, meint: «Vorläufig lassen wir weiterhin für uns einkaufen. Zwei Wochen warten wir mal ab und schauen, was passiert.» Grossprojekte könnten warten, das Wort «Eile» hätten sie während der letzten Wochen vergessen. Es ist interessant, wie die Leute auf den 11. Mai im Voraus reagieren. Die einen freuen sich, weil sie mehr Freiraum vor sich haben. Anderen ist es egal, denn sie hätten ohnehin gleich weitergelebt. Und den Dritten ist etwas mulmig zumute. «Denn», fragen sie sich, «wird jetzt alles gut? Haben wir nichts mehr zu befürchten?»
Genug Abstand wegen des Mundschutz
Mein Mann Roland und ich freuen uns darauf, wieder selber, autonom und ungebunden umfassend einkaufen zu können. Am letzten Montag begab ich mich nach sechs Wochen totaler Abstinenz zur Post mit zwei Paketen und drei Briefen. Mit Mundschutz wartete ich in der Reihe, wo noch zwei weitere Personen Mundschutz trugen. Wir drei hatten am meisten Platz um uns herum. Wenn also die Maske nichts nützt, wie viele sagen, so lässt sie immerhin andere Leute den Sicherheitsabstand einhalten. Zurück im Auto desinfizierte Roland sofort meine Hände. Als wir beim Bäcker vorbeifuhren, sah ich nur zwei Personen in dem relativ grossen Laden. Also hinein! Die automatische Tür hatte sich hinter mir geschlossen, und ich blieb am Eingang stehen. Wusste nicht, ob ich mich weiterbewegen darf oder nicht. Häjoo, ich wollte nichts falsch machen. Eine der Verkäuferinnen wandte sich an mich: «Möchten Sie einkaufen? Dann treten Sie bitte näher!»
Die Freude ist bei Enkeln und Grosseltern gross
Ja, das Leben scheint sich neu zu erfinden. Bekannte von uns, Grosseltern, die in einer Ecke der Schweiz leben und ihre Grosskinder in der anderen Ecke normalerweise oft besuchen, reisten durchs halbe Land, nachdem das BAG publiziert hatte, Grosskinder dürften umarmt werden. Sie trafen sich auf einem Rastplatz. Nachdem die Mutter gesagt hatte: «Ihr dürft jetzt Nona und Nene umarmen,» seien die drei Kinder wie in einem Sprint auf sie losgerannt; jedes wollte das Rennen gewinnen. Meine Freundin erzählte mir hoch erfreut, sie habe diese Woche zum ersten Mal nach der Abstinenz die Enkel wieder gehütet. Ich – ohne Grossmuttererfahrung – fragte, ob das jetzt wieder erlaubt sei. «Ja hee!», rief sie aus, «knuddeln dürfen wir schnell, aber nicht sie ein paar Stunden verwöhnen?»
Was wohl im Gedächtnis bleiben wird?
Mir gefallen diese kleinen Geschichten. Eigentlich interessant: Die sozialen Kontakte sind zwar reduziert und doch haben alle über eigenen Erlebnisse zu erzählen – mich dünkt, noch mehr als sonst und meistens anekdotenmässig. Was werden junge Menschen, welche diese aussergewöhnliche Zeit mitgemacht haben, ihren Nachkommen erzählen? Wie werden sie im Rückblick darüber denken; was davon im Gedächtnis behalten?