2020 war stark durch das Coronavirus geprägt. Der Landwirtschaft ging es zwar im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen verhältnismässig gut, denn gegessen wurde trotzdem. Welche Auswirkungen die Pandemie jedoch auf den Einzelnen von uns und auf das Zusammenleben untereinander hat, ist noch nicht klar. Denken wir nur an all die schönen gesellschaftlichen Anlässe, die nicht stattfinden konnten oder nur mit Einschränkungen.
Die BauernZeitung traf sich mit Andri Kober, dem Präsidenten des Bäuerlichen Sorgentelefons, in der Kapelle der Diaconis Stifung in Bern und blickt mit ihm auf ein nicht ganz einfaches Jahr zurück.
BauernZeitung: Andri Kober, was war Ihre persönliche Krise von diesem Jahr?
Andri Kober: Als die Finanzierung zweier grosser Projekte, bei denen ich viel Verantwortung übernommen hatte, Corona-bedingt massiv ins Stocken gerieten, bekam ich schlaflose Nächte.
Was hat Ihnen geholfen, die Situation zu meistern?
Entscheidend war, dass ich regelmässig Gespräche organisierte. Ich erlebe häufig, dass es in der Kommunikation rasch Missverständnisse gibt, da Teammitglieder und Beteiligte ganz unterschiedliche Erwartungen haben. Besonders erfreulich war es immer dann, wenn ich motivierende Inputs von unerwarteter Seite bekam. Es bestätigt mir, dass der Verlauf eines Projekts nicht allein von meinem Können abhängt. Ich erlebe Weiterentwicklung und Gelingen häufig als ein unerwartetes Geschenk, einen Segen.
Zur Person
Andri Kober ist reformierter Pfarrer, Coach und Mediator. Anfang 2019 übernahm er das Präsidium des Bäuerlichen Sorgentelefons, ein Hilfsangebot für Bäuerinnen und Bauern in schwierigen Lebenssituationen (siehe Box am Textende).
Das Jahr 2020 war stark durch das Coronavirus geprägt. Haben Sie das beim Bäuerlichen Sorgentelefon auch zu spüren bekommen?
Natürlich spüren auch wir die unberechenbare Pandemiesituation. Sei es als floskelhaften Gesprächseinstieg oder in einer konkreten Sorge, die geäussert wird. Interessant war, dass während des Lockdowns kaum Anrufe kamen. Alle schienen wie gelähmt. Im Sommer und Herbst waren die Bauernfamilien dann mit der Ernte beschäftigt. Zunehmend «verzweifelte» Telefone kommen erst jetzt, wo mehr Zeit zum Nachdenken und Aufarbeiten da ist.
War Ihr Team auf die veränderte Situation vorbereitet oder mussten Sie kurzfristig Massnahmen ergreifen?
Uns kam entgegen, dass unsere dreitägige, obligatorische Jahres-Retraite eine Woche vor dem Lockdown stattfand. Da durfte man sich schon nicht mehr berühren oder zu nahekommen. So konnten wir bereits thematisieren, was da allenfalls auf uns zukommen wird.
Was macht den Menschen auf den Bauernhöfen ausserdem zu schaffen?
Ich stelle fest, dass ein Teil unserer Bäuerinnen und Bauern grossen Respekt oder sogar Angst vor den zunehmenden Kontrollen hat. Man muss sich vorstellen, dass eine unangemeldete Kontrolle im Tagesablauf immer eine Störung darstellt und ungelegen kommt. Auch haben die Kontrollergebnisse leider durchaus einschneidende Konsequenzen: Strafabzüge und schmerzhafte Bussen.
Laut Rückmeldungen werden bei den Kontrollen ein gewisses Augenmass und der gesunde Menschenverstand vermisst. Stures oder pingelig-formelles Verhalten der Kontrollierenden und den dahintersteckenden Ämtern, hinterlassen ein schales Gefühl der Unmenschlichkeit zurück. Dies scheint mir weder zweckdienlich noch zielführend zu sein. Ich habe mir deshalb für 2021 das Ziel gesteckt, Kontrollinstanzen, und insbesondere ihre Kontrolleure, für die bisweilen gravierende Problematik zu sensibilisieren.
Wie wollen Sie das machen?
Ich kann als Präsident des Sorgentelefons in Interviews, Artikeln und Vorträgen die Nöte der Bäuerinnen und Bauern nach aussen tragen oder gezielt auf Organisationen zugehen. In diesem Jahr hatte ich beispielsweise die Gelegenheit, an den Weiterbildungstagen der Agro-Treuhänder über das Bäuerliche Sorgentelefon zu informieren und mit den Teilnehmenden über für sie «schwierige» Fälle ins Gespräch zu kommen.
Weitere Herausforderungen kündigen sich an: Pestizidverbots- und Trinkwasserinitiative, fortschreitende Digitalisierung, Ungewissheit wie es mit der Agrarpolitik weitergehen soll ... Was raten Sie Bäuerinnen und Bauern, wie sie darauf reagieren sollen?
Ratschläge sind schwierig. Das Wort sagt es ja bereits: Ein Rat ist manchmal mehr Schlag als Unterstützung. Mir scheint, es ist ganz wichtig, dass man eine positive Grundhaltung zum Leben hat. Dass man sich auf das, was kommt und was man sowieso nicht ändern kann, einstellt. Das braucht Selbstvertrauen, eine gute soziale Vernetzung, und es braucht den Mut, sich allenfalls Hilfe zu holen.
Im Hinblick auf die Abstimmungen rate ich entschieden, unser demokratisches Recht wahrzunehmen und abstimmen zu gehen. Das ist ein Teil unserer Möglichkeiten, uns einzubringen. Etwas zu machen gibt ein besseres Gefühl, als ohnmächtig zu sein und nichts zu machen oder gar ins Lamentieren zu geraten.
Wären auch Beten und Glauben eine mögliche Lösung, und ist das überhaupt noch zeitgemäss?
Die Haltung, die hinter meinen vorangehenden Ausführungen steht, nenne ich eine christliche. Das verstehe ich persönlich als «Glauben». Glauben bedeutet vor allem «vertrauen».
Beten hat dieselbe Wortwurzel wie das althochdeutsche Wort «bitten». Beten formuliert aktiv ein Anliegen, das man hat. Jesus hat gesagt, man soll im stillen Kämmerlein seine Bitten formulieren, denn Gott weiss ja sowieso um dein Problem. Im Prinzip macht man in einer Therapie nichts anderes. Ob man seine Anliegen gegenüber dem unfassbaren und für mich lebendigen Gott, vor einem Kreuz oder gegenüber einer Therapeutin formuliert, ist unwesentlich. Aus Erfahrung weiss ich, entscheidend ist, dass man Ahnungen, Gefühle und besonders Ängste in Worte fasst und auszuformulieren versucht. Wem gegenüber muss für einen selber stimmen.
Erst kürzlich wurde in Winterthur ein Segnungsroboter getestet. Der umfunktionierte Bankomat spuckt Segenswünsche auf Knopfdruck aus. Was sagen Sie zu solchen Entwicklungen?
Das habe ich leider nicht mitbekommen. Die herkömmliche Tradition, Tageslosungen oder Segenssprüche zu konsultieren, sind Abreisskalender oder Jahreslesebüchlein. Heute sind solche auch in Form von Mails, SMS, Whatsapp usw. erhältlich. Jetzt auch von einem Segnungsroboter einen guten Bibelvers, einen ermunternden Gedankenanstoss ausgespuckt zu bekommen, scheint mir witzig. Alle nicht mehr gebrauchten Bancomaten in Segensroboter umzubauen, das wäre eine starke Vision!
Weihnachten steht vor der Türe. Corona-bedingt müssen Familien von ihren Familientraditionen abweichen. Ist das ein Segen oder Fluch?
Ich denke, Traditionen können sich ändern. Es ist durchaus gut, wenn man bereit ist, Veränderungen zuzulassen. Vor einem Jahr hätte ich an der Vorstellung von Onlinekonferenzen kaum Freude gehabt, unterdessen habe ich an die 30 hinter mir. Ich finde, bei aller Anstrengung haben sie auch ihr Gutes. Wenn man für Sitzungen nicht weit reisen muss, ist das ein Segen, positiv für Umwelt, Gesundheit und Klima. Wieso sollte das nicht auch für dieser Situation angepasste Familientraditionen gelten?
Was ist Ihr ganz persönliches Weihnachtsritual?
Am Heiligabend liebe ich es, eine CD mit beschwingten, jazzigen Weihnachtsschnulzen - z. B. «White Christmas» vom legendären Frank Sinatra - zu hören. Über die Weihnachtstage ist es ein «Must», mir einmal die wunderbare «Zeller Wiehnacht» der Schlieremer Chind aufzulegen. Weihnachten ohne diese Rituale wäre für mich wie Silvester ohne «Dinner for one».
Was stimmt Sie optimistisch fürs nächste Jahr?
Ich finde es ermutigend, wie viele kreative Ideen und Möglichkeiten in dieser komplexen Agrar- und Landwirtschaftswelt neu angegangen und umgesetzt werden. Das stimmt mich unglaublich zuversichtlich. Die Probleme sind riesig, doch die Lösungsansätze sind genauso unermesslich. Vor allem viele junge (und junggebliebene) Bäuerinnen und Landwirte machen das super, sind innovativ und setzen sich engagiert ein. Sie lassen sich nicht unterkriegen. Es ist in erster Linie ja ihre Zukunft. Da ist viel Energie. Da ist Mut. Das ist stark!
50 Stunden lang zuhören
Das bäuerliche Sorgentelefon wurde 1997 mit folgender Begründung ins Leben gerufen: Es braucht eine direkte Reaktion auf die mit dem Strukturwandel verbundenen existenziellen Problemen in der Landwirtschaft und die dadurch entstehenden sozialen und seelischen Nöten bei Bäuerinnen, Bauern und ihren Angehörigen.
Ein paar Zahlen aus dem Anrufstatistik 2019:
- Es gingen 117 Anrufe ein, die zirka 50 Gesprächsstunden dauerten. Das ist ein Rückgang gegenüber 2018 und 2017, wo 158 bzw. 154 Anrufe eingingen.
- Menschen im Alter von 50 bis 59 Jahre benützten das Angebot am meisten, gefolgt von den 60- bis 69-Jährigen.
- 60 % der Anrufenden waren Frauen, 40 % Männer. Im langjährigen Schnitt ist das Geschlechterverhältnis zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer.
- In 42 % der Fälle ging es in der Problemstellung um die Familie, gefolgt von den Themen Gesundheit (24 %), Finanzen (16 %) und Betrieb (16 %).
- 11 Freiwillige bedienten die Hotline.
Mehr Informationen unter: www.baeuerliches-sorgentelefon.ch
Das Sorgentelefon im AgrarPodcast
Andri Kober spricht über das Sorgentelefon in der dritten Episode unseres AgrarPodcasts.