Die Revitalisierung der Thur im Kanton Thurgau ist seit Jahren ein politisches Seilziehen zwischen Landwirtschaft und Umweltverbänden. In jüngster Vergangenheit stand die Etappe Bürglen-Weinfelden im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei geht fast vergessen, dass auch weiter flussabwärts, auf der Etappe Weinfelden-Frauenfeld, Land für die Produktion verloren geht. Dies droht Familie Huggel in Bussnang. «Im schlimmsten Fall müssen wir den Betrieb aufgeben. Im besten Fall wird die geplante Gewässerraumlinie verschoben», sagt Urs Huggel.
«Fühlen uns vor den Kopf gestossen»
Barbara und Urs Huggel haben den Betrieb mit 25 Kühen und 20 ha Land im Jahr 2000 gekauft. Damals sprach niemand von einer Renaturierung der Thur. Die Milchviehhaltung bauten sie kontinuierlich aus, heute halten sie 145 Holsteinkühe. Sie vergrösserten die Güllegrube, bauten einen Laufstall und drei Fahrsilos, installierten eine Photovoltaikanlage. «Wir konnten einen Vollerwerbsbetrieb aufbauen, der auch der nächsten Generation eine Zukunft bieten würde», sagt Urs Huggel. Wären da nicht die Pläne des Kantons, die Thur in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen.
2006 war die Thur-Renaturierung auf dem Abschnitt Bürglen-Weinfelden erstmals ein Thema. Der Streckenabschnitt liegt etwa zwei Kilometer von Huggels Hof entfernt. «Damals hiess es, das sei bei uns kein Thema, weil wir eine Grundwasserpumpstation in unmittelbarer Betriebsnähe haben», erzählt Barbara Huggel. Sie hätten das Thema folglich nur aus der Ferne mitverfolgt.
Vor drei Jahren kam der erste Schock. «Da erhielten wir das erste Mal Einsicht in die Pläne des Kantons und dass die Linien recht nahe am Betrieb eingezeichnet sind», ergänzt die Bäuerin. Die Interventionslinie (Begrenzung des Flussbetts), grenzt direkt an den Laufhof, die Grenze des Gewässerraums verläuft quer durch die Fahrsilos und die Scheune. Die gesamte Wiesenfläche, die zwischen Stall und Thur liegt, müsste als Ökofläche ausgeschieden werden.
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Es würden total 17 ha düngbare Fläche verloren gehen, davon 9 ha Eigenland. «Dies hätte katastrophale Auswirkungen auf die Nährstoffbilanz des Betriebes», sagt Urs Huggel. Die Anforderungen fürs RAUS-Programm könnten sie nicht mehr erfüllen.
Kanton setzt Frist für Landverkauf
Im Frühjahr 2022 erhielten alle Grundeigentümer, die von Thur+ betroffen sind, Post vom Kanton Thurgau. In diesem Schreiben bot der Kanton an, das Land für Fr. 15.–/m2 zu kaufen. Für den Entscheid wird eine Frist bis am 31.12.2024 gewährt. Für Urs Huggel eine Frechheit: «Erstens sind diese Preise viel zu tief angesetzt. Und zweitens entsteht der Eindruck, man wolle uns einschüchtern.» Huggels gingen nicht auf das Angebot ein. Selbst bei einer Enteignung könne der Kanton das Doppelte zahlen.
Barbara Huggel ergänzt: «Da haben wir innerhalb der Familie realisiert, jetzt kann es schnell gehen.» Dazu muss man wissen, dass das heute vorliegende Konzept Thur+ ein Kompromiss zwischen Landwirtschafts- und Umweltverbänden ist. Der Gewässerraum wurde in den Dämmen begrenzt. «Uns hilft das nicht», sagt Urs Huggel. Schwierig und belastend ist die Situation nicht nur für ihn und seine Frau, die ihr Lebenswerk in Gefahr sehen. Die Söhne Andri (25) und Cyril (23) planen eigentlich, den Betrieb in ein paar Jahren zu übernehmen.
«Wir wollen hier nicht weg. Und eine andere Tiergattung kommt für uns nicht in Frage.»
Cyril Huggel (25) möchte nicht weg von Bussnang
Betriebsspiegel
Name: Barbara und Urs Huggel
Ort Bussnang TG
LN: 45 ha; Silomais und Grasland
Viehbestand: 145 Milchkühe, Rasse Holstein; Aufzucht extern
Milchmenge: 1,3 Mio kg an Arnold Produkte AG
Arbeitskräfte: Urs und Barbara, Andri (Teilzeit) und Cyril (i. A. zum Agrotechniker), 1 Festangestellter
Jede Investitionen wird hinterfragt
Familie Huggel schwebt sozusagen im luftleeren Raum. Urs Huggel erklärt: «Die Umsetzung wird in Etappen vollzogen. Erst wenn das Projekt quasi vor unserer Haustüre ist, können wir Einsprache erheben.» Zwar habe das Amt für Umwelt versichert, dass noch nichts in Stein gemeisselt sei, aber schriftlich haben sie das nicht. Im besten Fall, so der Landwirt, werde die Gewässerraumlinie in diesem Abschnitt unmittelbar an der Thur festgelegt.
«Im schlimmsten Fall müssen wir die Koffer packen.»
Urs Huggel zum Worst-Case-Szenario
Doch Land würden sie so oder so benötigen, wenn nicht hier, dann andernorts. Der Kampf ums Kulturland hat für Barbara, Urs, Andri und Cyril Huggel erst begonnen. Barbara Huggel sagt: «Realersatz bringt uns nichts. Wir brauchen das Land um den Betrieb.» Huggels fordern vom Kanton einen Grundsatzentscheid innerhalb der nächsten zwei Jahre. «Die heutige Unsicherheit ist unhaltbar. Bei jeder Investition diskutieren wir darüber, ob es sich lohnt, diese zu tätigen», schildert Urs Huggel.
Landverlust auf Kosten der Bauern
Der Landwirt stört sich massiv an der Arroganz von Politik und Behörden, wie mit der Landwirtschaft umgegangen wird. Das fange schon damit an, dass man für das Revitalisierungsprojekt auf Karten aus dem 19. Jahrhundert zurückgreife. «Man will der Thur ihr früheres Einzugsgebiet zurückgeben, aber selbstverständlich nur auf Landwirtschaftsland und Waldgebiet.» Jede sonstige Infrastruktur werde nicht angerührt.
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Der Kanton Thurgau betont, man strebe ein möglichst gutes Einvernehmen mit allen Beteiligten und Betroffenen an. Im Mai startet ein Entwicklungsprozess mit Vertretern der betroffenen Anspruchsgruppen, um die Mitwirkung zu konkretisieren und auf die verschiedenen Projektphasen abzustimmen. Familie Huggel wird sich hier einbringen. «Wir sind an einer einvernehmlichen Lösung interessiert», betont Cyril Huggel. Letztendlich geht es um nichts weniger als die Existenz des Betriebs und das Lebenswerk seiner Eltern.
«Kulturland unter Druck»
[IMG 3] Die BauernZeitung thematisiert in einer losen Serie den Kulturlandverlust in der Ostschweiz. Wir zeigen pro Kanton auf, bei welchen Projekten in den nächsten Jahren Land der Produktion entzogen wird, und besuchen einen betroffenen Bauernbetrieb. Zum Beispiel Familie Huggel aus Bussnang TG.
Kulturland unter Druck: 3 Beispiele aus dem Kanton Thurgau
- Thur+: Durch das Hochwasserschutz- und Revitalisierungskonzept für das Thurtal, kurz Thur+, gehen im Kanton Thurgau in den nächsten 30 Jahren 212 ha Landwirtschaftliche Nutzfläche und 345 ha Wald verloren. Das sind 0,4 Prozent der gesamten LN des Kantons respektive 1,7 Prozent der Waldfläche. Das heutige Flussbett wird mechanisch auf 80 Meter Breite ausgeweitet. Die Umsetzung des Konzepts soll in drei Hauptetappen über 18 Gemeinden stattfinden. Der Kanton Thurgau rechnet mit Kosten von 325 Mio Franken.
Der Grosse Rat hat das Konzept Thur+ Ende 2022 zur Kenntnis genommen. Im Sommer 2023 startet ein Entwicklungsprozess Ländlicher Raum (ELR) für den Abschnitt zwischen Warth-Weiningen und Weinfelden. Mit diesem sollen die landwirtschaftlichen Bedürfnisse abgeholt, mit den Ansprüchen der weiteren Anspruchsgruppen betrachtet und nach gemeinsamenLösungen gesucht werden.
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BTS/OLS: Im Jahr 2012 sagte das Thurgauer Stimmvolk Ja zum Bau der Bodensee-Thurtalstrasse (BTS) und der Oberlandstrasse (OLS). BTS und OLS sind zwei sich ergänzende Strassenbauprojekte, deren Bau aneinander gekoppelt ist. Beide Strassen sollen die Ortschaften vom Verkehrsaufkommen entlasten. Die 30 km lange BTS soll durch den halben Kanton verlaufen. Die OLS soll von Amriswil via Langrickenbach nach Kreuzlingen führen.
Über 100 ha Kulturland werden dem Strassenbau zum Opfer fallen. 700 Landeigentümer sind betroffen. Das verlorene Land soll durch Güterzusammenlegungen ersetzt werden. Für den Bau der BTS wird mit Kosten von 1,5 Mrd Franken und für die OLS mit 200 Mio Franken gerechnet. Da die BTS eine Nationalstrasse sein wird, liegen Bau, Finanzierung und der Betrieb in der Zuständigkeit des Bundes. Dieser hat die BTS im Februar 2023 doch noch ins Entwicklungsprogramm Nationalstrassen (Step) aufgenommen.
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Wiedervernässung: 2020 stimmte der Thurgauer Grosse Rat der Volksinitiative «Biodiversität Thurgau» zu, die unter anderem die Entwicklung einer kantonalen Biodiversitätsstrategie verlangt. Der «Massnahmenplan Biodiversität 2023–2028» soll im Sommer 2023 von der Regierung verabschiedet werden. Rund 7 Mio Franken sollen jährlich zur Förderung und Aufwertung der Biodiversität im Thurgau aufgewendet werden.
Für die erste Umsetzungsetappe wurden 25 prioritäre Massnahmen festgelegt. Eine betrifft die Wiedervernässung von Kulturland. Dabei handelt es sich um ehemalige Feuchtgebiete mit meist staunassen Böden. Ein kleiner Teil dieser ehemaligen Feuchtgebiete soll auf freiwilliger Basis regeneriert und anschliessend als artenreiche Streuwiesen genutzt werden. Die Flächen bleiben extensiv nutzbar. Vorgesehen ist gemäss dem Amt für Raumentwicklung eine Wiedervernässung von durchschnittlich 5 ha pro Jahr bis 2028. Das entspricht einer Fläche von 30 ha.
