Schüpfheim Die 45-jährige Ursula Studer ist gelernte Kaufmännische Angestellte EFZ und Bäuerin FA. Sie ist seit 20 Jahren verheiratet und hat vier Kinder im Alter von 10 und 16 Jahren. Zusammen mit ihrer Familie bewirtschaftet sie einen mittelgrossen Landwirtschaftsbetrieb. Seit einiger Zeit bemerkt sie, dass sie ihr Arbeitspensum zu Hause und ihre Teilzeittätigkeit in einem Immobilienbüro fast nicht mehr «unter einen Hut» bringt und ihr alles zunehmend schwerfällt.

Der Zug ist nicht zu stoppen

Ursula Studer fühlt sich wie in einem IC-Zug, der rasend schnell fährt und nicht mehr stoppen kann. Jeweils an den Wochenenden kann sie sich nicht mehr ausreichend erholen, der IC wird immer schneller. Nicht nur die Hausarbeit und die Versorgung der Kinder stellen eine zunehmende Last für sie dar. Ihr bereiten auch immer weniger Dinge Freude, die ihr sonst die Gelegenheit boten, wieder Kraft für den beruflichen und privaten Alltag zu sammeln. Beispielsweise treibt sie kaum noch Sport, sagt zunehmend Verabredungen mit Kolleginnen und Familie ab und hat vor kulturellen Aktivitäten sogar Angst entwickelt.

Sie spricht mit niemandem über ihre Sorgen und Ängsteund bestreitet mühsam ihren Alltag. Ihren Kindern und ihrem Mann gegenüber versteckt sie ihren wahren Gemütszustand. Schliesslich erlebt Ursula eines Morgens fast einen Zusammenbruch und ihr Körper ist wie gelähmt.

Verständnis ist gefordert

In solch einer Situation wie bei Ursula Studer können die Reaktionen der Angehörigen ganz unterschiedlich sein. Die Facette reicht von Versuchen zu helfen über Gleichgültigkeit bis hin zu Verständnislosigkeit und Wut.

Die schönste und beste Möglichkeit, wie Angehörige reagieren könnten, ist Hilfsbereitschaft und Verständnis. Meist sind jedoch die Angehörigen im ersten Moment selber überfordert mit der Situation und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Nahstehende Personen können jedoch einiges tun, um Betroffenen zu helfen. Selbstverständlich können sie keine therapeutische Unterstützung bieten. Sie können jedoch dafür sorgen, dass ein Therapeut mit ins Boot geholt wird.

Viele Betroffene weigern sich, einen Arzt zu besuchen, weil sie denken, dass er nicht helfen kann. Das braucht von den Angehörigen viel Überzeugungskraft. Auch der Beitritt in eine Selbsthilfegruppe kann für alle unterstützend wirken.

Werden alle Vorschläge von der betroffenen Person nicht akzeptiert, dann könnte beispielsweise ein Bekannter um Hilfe gebeten werden, welcher die betroffene Person nicht so gut kennt. In einem konstruktiven Gespräch sollte der Bekannte Hinweise machen wie zum Beispiel: «Mir ist aufgefallen, dass du einen ausgelaugten und erschöpften Eindruck machst.» Bekommt die Betroffene von zwei Seiten ein vergleichbares Feedback, kann sie das überzeugen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nur wenn die erkrankte Person selbst davon überzeugt ist, dass sie Hilfe braucht, kann eine Heilung einsetzen.

Freiraum nehmen

Auch während der Behandlung fällt es Angehörigen oft schwer, den richtigen Weg zu finden, weil die betroffene Person sich anders verhält als im bisherigen Leben. Es ist schwierig, einen Menschen aus der Tiefe in ein aktives und positives Leben zurückzubegleiten. Also ein anstrengender Weg für Angehörige, welcher viel Zeit und Geduld erfordert. Gerade in dieser Phase gilt es, die eigene Work-Life-Balance nicht zu vergessen, denn sonst kann eine Person nicht eine Stütze für eine Erkrankte sein. Es ist wichtig, dass die Krankheit nicht den gesamten Alltag der Familie bestimmt. Das wäre kontra-produktiv und könnte eine Familienangehörige oder den Partner ebenfalls in einen stressvollen Zustand bringen.

Sich immer wieder selber eine Auszeit gönnen, Spass haben und unbeschwert sein. Das ist wichtig, obwohl Menschen im Umfeld das vielleicht nicht verstehen und nachvollziehen können. Aber nur so können die eignen Kraftreserven aufgetankt werden und man kann der erkrankten Person über einen längeren Zeitraum eine Stütze sein.

 

Mögliche Stoppsignale

  • Gehetzt sein, Unruhe, Erschöpfung
  • Gefühlslabilität, Angst, wütend-frustrierte Spannung
  • Leistungsminderung
  • Schlafstörung, Müdigkeit
  • Bluthochdruck
  • Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Störungen, Tinnitus
  • Wiederkehrende Infekte
  • Konzentrationsstörung
  • Verzweiflung, Hilflosigkeit
  • Sozialer Rückzug

Eine Selbsthilfegruppe speziell für Angehörige von erkrankten Personen kann unterstützend und wertvoll sein. Um mit der schwierigen Situation umgehen zu können brauchen Angehörige Informationen und Unterstützung.

Informationen über die Krankheit: wodurch sich der Umgang mit den Betroffenen und sich selber verbessern kann.

Austausch von Erfahrungen: und gegenseitige Unterstützung, damit die Angehörigen den Mut finden, selber aktiv zu werden, um die veränderten Lebensumstände bewältigen zu können.

Entlastung und Distanz: damit persönliche Grenzen gesetzt werden können. Auch loslassen und das eigene Leben wieder selber gestalten ist wichtig für die Angehörigen.

Neue Ziele setzen: Erwartungen anpassen, Verantwortung abgeben, Gelassenheit anstreben sowie eigene Schuldgefühle loswerden und eigenes Selbstvertrauen stärken.

Lebensfreude zurück

Ursula Studer konnte den Schnellzug stoppen und aussteigen. Nach einer intensiven Behandlungszeit hat sie ihre Lebensfreude zurückgewonnen. Während der ganzen Zeit hatte sie grosse Unterstützung von ihrem Ehemann. Er findet jedoch, dass man trotz all den grossen Sorgen um einen lieben Menschen sein eigenes Wohlbefinden nicht vergessen darf. Sonst ist man plötzlich selber im Intercity-Zug ohne Haltestelle unterwegs.

 

 

Wichtige Anlaufstellen: