Es ist schon spät. Draussen verschwimmen die wenigen Lichter in der Dunkelheit zu Linien. Neben mir auf dem Sitz steht etwas, eingeschlagen in hellgrünes Papier. Es ist ein Geschenk, ein Mitbringsel von einer Reportage, die nicht ganz so ausgeht, wie das ursprünglich geplant war.

Ich bin unterwegs, von Züberwangen im Kanton St. Gallen nach Laupen im Kanton Bern. Das Mittelland liegt mit Ausnahme von den Autobahnen, den Bahnhöfen und vereinzelten Dörfern im Dunkel. Durch die Fensterscheibe im Zugabteil ist die Kälte draussen spürbar. Vis-à-vis nimmt ein Wachtmeister Platz – ein Romand mit aufmerksamen braunen Augen und einem schwarzen Béret auf dem Kopf. Er sei um halb elf zu Hause, sagt er ins Telefon.

Geduld wird Rosen ernten

Ich bin froh, dass ich immerhin schon um zehn Uhr zu Hause sein werde und frage mich, was wohl im hellgrün eingepackten Geschenk drin sein könnte. Ob ich einen Blick hineinwagen soll? «Es ist besser, Sie schauen erst zu Hause nach, was es ist.» Das sagte mir Markus Tuchschmid, als er mir das Präsent in die Hand drückte. Tuchschmid ist Produktionsleiter bei der Gärtnerei Rutishauser in Züberwangen und erklärte mir, wie Weihnachtssterne produziert werden, was sie mögen und was nicht.

 

Bis Ostern haltbar

Ein guter Weihnachtsstern …

  • fühlt sich knackig und
    frisch an,
  • ist wohlriechend,
  • hat regelmässige, gleichmässig rot gefärbte Blätter,
  • ist bei richtiger Pflege bis Ostern haltbar.

Die Pflege ist selbst für Menschen mit einem kleinen grünen Daumen nicht so schwer: an einem hellen, vor Zugluft geschützten Ort und mit nicht zu viel Wasser versorgt, ist es dem Weihnachtsstern am wohlsten.

 

Symbol für christliche Werte

Das Präsent fühlte sich wie ein Blumentopf an, der mit Erde gefüllt eine Pflanze beheimatet. Ich würde mich in Geduld üben müssen und den Rat des Gärtners befolgen. Denn wenn ich etwas nicht kann, dann zu Pflanzen Sorge tragen – ausser, sie haben eine Anzeige für den Wasserstand. Ich lenke mich mit Schreibarbeit ab. Eigentlich möchte ich einen Text über den Weihnachtsstern schreiben – jene Pflanze, die bis am 24. Dezember helvetische Tische und Zimmer verschönert und von der gesagt wird, sie gelte als Symbol für christliche Werte. Wenn einer weiss, worauf bei der Produktion zu achten ist, dann Tuchschmid. Vierzig Jahre schon ist er bei Rutishausers im Einsatz. Er weiss im Schlaf, wie er dafür sorgen kann, dass die Pflanze die typischen roten Blätter ausbildet.

Öffnen, oder nicht?

Nach einer knappen Stunde Zugfahrt komme ich in Zürich an. Es ist ein ruhiger Abend, aber die Zürcher sind immer ein bisschen in Eile – selbst würden sie wohl sagen, man sei in Zürich halt auf Zack. Ich packe meine Sachen, das Geschenk und steige aus. Ob es wohl ein Weihnachtsstern ist, den mir Rutishausers mit auf den Weg gegeben haben, frage ich mich erneut. Dafür spräche der Rat Tuchschmids, das Papier erst zu Hause zu öffnen. Denn Weihnachtssterne ertragen Temperaturwechsel schlecht.

Auch die Dimensionen des Mitbringsels sprächen für einen Weihnachtsstern: Es ist rund vierzig Zentimeter hoch, hat an der breitesten Stelle einen Umfang von gegen fünfzig Zentimetern und in etwa das Gewicht einer halbjährigen Pflanze. Ich bleibe auf dem Perron stehen und warte auf den Zug nach Bern. Ob ich jetzt nicht doch einen Blick in das Paket werfen soll? Zu umständlich, finde ich. Schliesslich stehe ich mitten in der grössten Stadt der Schweiz, am Gleis und warte auf den Zug. Es gibt wahrlich günstigere Momente, um meine Neugier zu befriedigen. Ausserdem habe ich den Eindruck, dass Rutishausers beim Einpacken ganze Arbeit geleistet haben: Das Papier sitzt satt, aber nicht zu fest um den Topf und lässt der Pflanze genug Spielraum.

Begeisterung und Automaten

In Gedanken gehe ich noch einmal das Gespräch durch, sortiere die Eindrücke. «Der Weihnachtsstern steht für christliche Werte», sagte Bruno Rutishauser. Rutishauser leitet die Geschäfte am Standort Züberwangen. Seine vier Geschwister leiten andere Standorte, zusammen betreiben sie die Gärtnerei in vierter Generation und seit über 110 Jahren. Der Betrieb gehört zu den grössten Weihnachtsstern-Produzenten der Schweiz, beliefert Gross- und Detailhandel und beschäftigt rund 150 Personen. Rutishauser sagt, man habe immer investiert, sich an Kundenbedürfnissen orientiert und versucht, der Konkurrenz ein Schnippchen zu schlagen.

Dazu gehören eine weitgehend automatisierte Produktion und Leidenschaft. «Wir sind verliebt in unser Produkt», sagt Rutishauser unter dem Dach eines der Gewächshäuser; vor ihm stehen in langen Reihen die Weihnachtssterne, die in den kommenden Tagen und Wochen verkauft werden sollen. Die dominierende Farbe ist dabei rot. Zwar gibt es mittlerweile gelbe und pinkfarbene Weihnachtssterne und solche mit abgerundeten oder gesprenkelten Blätter – der Renner ist aber nach wie vor der rote, der selbst bei Produktionsleiter Markus Tuchschmid jedes Jahr im Wohnzimmer steht.

 

Druck auf den Schweizer Blumenmarkt

«Im Moment geht eine andere Welle ab», sagt Bruno Rutishauser. Der Geschäftsleiter des Standorts Züberwangen SG  meint damit die Entwicklungen auf den internationalen Märkten und den Konkurrenzdruck. Beim Blumenhandel gibt es keinen Grenz- sondern bestenfalls einen Distanzschutz. Mit sinkenden Transportkosten wird dieser aber kleiner. Die Folge ist Druck auf den Schweizer Blumenmarkt. Rutishauser sagt, dass Schweizer Gärtner nur dann eine Chance haben, wenn sie bessere Qualitäten liefern können. Die Preisführerschaft liege sowieso nicht drin, die Standortkosten sind ohnehin teurer. Dass Rutishauser auf Automatisierung setzt, ist deshalb klar. Aber das alleine schützt nicht einmal den Weihnachtsstern: Für das Symbol christlicher Werte fehlen zusehends Käufer; Rutishauser beobachtet die Entwicklung aufmerksam und ist bereits auf der Suche nach anderen Pflanzen, die dereinst die Umsatzeinbussen auffangen könnten. Wie schnell sich das Konsumverhalten aber tatsächlich ändert, muss sich erst noch zeigen.

 

Der rote Stern aus Mexiko

Der Klassiker hat seinen Ursprung in Mexiko, die Mutterpflanze steht jedoch in Afrika. Die Stecklinge werden von da nach Deutschland transportiert, bewurzelt und als Jungpflanzen in die Schweiz verfrachtet. Im Juni kommen die ersten Pflanzen in Züberwangen in den Topf. Im Juli hat das Eintopfen dann Hoch-
saison, im August und September folgen noch die Nachzügler. Der Eintopfzeitpunkt entscheidet über die Grösse der Pflanzen, der Tag-Nacht-Rhythmus darüber, wann sie die roten Blätter ausbilden und für den Verkauf freigegeben werden.

Doch kein Weihnachtsstern

Mein Geschenk könnte also etwa ein halbes Jahr alt sein, mutmasse ich, als ich in den Zug nach Bern einsteige. In mir steigt eine gewisse Freude auf – Bruno Rutishausers Enthusiasmus für seine Gärtnerei und seine Pflanzen ist ansteckend. «Die Pflanze bringt Wärme in die Wohnung», sagte Bruno Rutishauser. Ich sitze im Abteil und frage mich erneut, ob ich es nicht doch wagen soll und einen Blick in das Päckli zu werfen. Es zeigt sich, dass es doch einen Spalt hat – dort wo das Papier über die untere Schicht zu liegen kommt und so den Abschluss bildet. Ich schiebe das Papier ein bisschen zur Seite und sehe grüne Blätter. Und rosarote Blüten. Die Blätter sind klein, rund, sehen frisch und knackig aus. Die Blütenknospen sind klein, rund, satt – ein Weihnachtsstern ist das nicht.

Blumen machen Freude

Ich muss grinsen, denn es gab eine Zeit, da verschenkte ich an Weihnachten Azaleen. Ich weiss nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal mit einer Azalee vor der Tür stand und klingelte, es dürfte etwa 18 Jahre zurückliegen. Ich weiss aber, dass die Blume im Topf Freude machten und ein Strahlen aufs Gesicht zauberten. «Mit Blumen liegt man nie daneben», sagte Markus Tuchschmid.

Der Produktionsleiter am Standort Züberwangen ist auch nach mehr als vierzig Jahren fasziniert davon, wie Blumen Augen zum Leuchten bringen können. Er erzählt, wie seine Mutter Freude am roten Weihnachtsstern hat, den er ihr einen Tag vor meinem Besuch geschenkt hat. «Das Schöne an unserer Arbeit ist, dass wir etwas Positives mitgeben. Jeder, der eine Ladung Blumen auf die Rampe in den Lastwagen schiebt, verschickt Freude», sagt sein Chef, Bruno Rutishauser. «Und darum geht es schlussendlich im Leben: für andere da zu sein und ihnen das Leben schöner zu machen». Mit der Azalee ist ihnen das geglückt – die Pflanze machte unser Wohnzimmer für kurze Zeit schöner.

Epilog

Leider war der Azalee nur ein kurzes Leben beschieden – ein wasserloses Wochenende und die Temperaturschwankungen vom Transport dürften der Pflanze den Garaus gemacht haben. Glücklicherweise hat meine Frau Abhilfe geschaffen und einen richtigen Weihnachtsstern gekauft. Der bringt jetzt Wärme in die Stube und steht – wie es sich gehört – an einem hellen, vor Zugluft geschützten Ort.