Vielleicht bin ich jetzt selbst masslos, wenn ich behaupte, dass heute in vielem das Mass verloren gegangen ist. Das gesunde Mass, das Augenmass oder wie ein deutsches Sprichwort sagt, das Mass als Krone aller Tugend, es wird immer seltener. Masslosigkeit breitet sich aus, und sie erschwert es, Kompromisse und Lösungen zu finden, weil diese häufig gar nicht gewünscht sind. Positionen verhärten sich, Auseinandersetzungen verschärfen sich und eskalieren zum offenen Streit. Eine ungute und beunruhigende Entwicklung, was schon Giovanni Boccaccio wusste, der schrieb: «Alle Dinge, die über Mass und Ziele gehen, sind von kurzer Dauer.» Oder, um es mit einem weiteren Sprichwort zu sagen: «Zu wenig und zu viel ist aller Narren Ziel.»
Der Sommer brachte viel Regen und Hagel
Von dieser Masslosigkeit hat sich sogar das diesjährige Sommerwetter anstecken lassen, es brachte viel Regen, eine hohe Luftfeuchtigkeit und verbreitet schweren Hagelschlag. Die Winzer und Winzerinnen in der Ostschweiz rechnen dadurch mit erheblichen Ertragsausfällen durch Pilzbefall und Hagelschäden. Betroffen sind vor allem die Hauptsorten Blauburgunder und Müller-Thurgau. Aber auch pilzwiderstandsfähige, sogenannte PiWi-Weinsorten hatten Mühe, sich gegen den Falschen und den Richtigen Mehltau zu behaupten. Auch sie benötigten in der Regel den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, um gesund zu bleiben. Es brauchte das nötige Mass, nicht zu wenig und nicht zu viel. Mit den Winzern und Winzerinnen hoffen wir nun auf einen masslos goldenen Herbst, damit wir vom Jahrgang 2021 später sagen können: «klein, aber fein».
Appell an den Nationalrat
Verständnis für das nötige Mass erhoffe ich mir vom Nationalrat am 20. September. Dann behandelt er die Motion «Gewässerräume. Geografische und topografische Verhältnisse besser berücksichtigen.» Die Umsetzung des Gewässerschutzgesetzes vom 11. Dezember 2009 hat sich als sehr schwierig erwiesen. Etliche Bestimmungen der bundesrätlichen Verordnung waren in ihrer konkreten Anwendung schlicht masslos, weshalb sie zweimal angepasst und Merkblätter mit Dutzenden von Seiten publiziert wurden.
In einem Punkt aber fehlt das richtige Mass bis heute: bei der Festlegung des Gewässerraums entlang von Flüssen mit sehr unterschiedlicher Wasserführung wie der Linth, Sernf, Emme oder Thur. Die Kantone sollen deshalb die Kompetenz erhalten, in begründeten Einzelfällen die festgelegte Norm-Gewässerraumbreite zu reduzieren, um einen übermässigen Verlust von landwirtschaftlicher Nutzfläche zu vermeiden, wo dies aufgrund von Geografie oder Topografie eine Härte ist und auch in volkswirtschaftlich-ernährungspolitischer Hinsicht Fragen aufwirft.
Ein Kompromiss muss gefunden werden
Solche Reduktionen könnten an die Bereitschaft der betroffenen Landwirte gekoppelt werden, als Ersatz für den reduzierten Gewässerraum auf anderen Landwirtschaftsflächen auf das Ausbringen von Gülle und künstlichem Dünger sowie auf den Einsatz von Herbiziden und Pestiziden zu verzichten.
Nach der Zustimmung im Ständerat und dem knappen Ja in der vorberatenden Kommission des Nationalrats (Urek) hoffen wir darauf, dass der Nationalrat die Motion ebenfalls annimmt. Er fände damit das richtige Mass, um die bisherigen Vollzugskompromisse zu vervollständigen und bei den betroffenen Landwirten Vertrauen und Goodwill zu schaffen. Zum Beispiel bei Emil Zwingli in Wattwil. Seine Freude wäre vermutlich masslos.