Wir Kinder kauern unter dem Tisch und stopfen uns die Ohren zu. «Der Schuss ist vorbei!», ruft unsere Mutter. Schnell purzeln wir hervor und rennen nach draussen zu unserem Vater.

Wir haben zuvor geholfen, den Stier aus dem Stall zu führen. Nun liegt er tot, aber noch zuckend am Boden. Dad kniet daneben und schneidet den Kopf ab. Jetzt wird ein Seil um die Füsse des toten Körpers gelegt und über einen Balken zwischen zwei Bäumen geführt. Mit dem Traktor zieht Dad das Tier hoch, um es fertig zu schlachten.

Verkauf an der Haustür

Wir Kinder fanden das alles hoch spannend. Ich empfand keinen Ekel vor dem Blut und erinnere mich nicht, dass ich es schlimm fand, dass das Tier sterben musste. Es war einfach Teil unseres Lebens. Das Fleisch war fester Bestandteil unserer Nahrung, zusammen mit dem Gemüse und den Kartoffeln aus dem Garten.

Sobald unsere Rinderherde es erlaubte, schlachtete Dad ab und zu ein Tier. Dies war eine nötige zusätzliche Einkommensquelle. Anfangs lud Dad die beiden Hinterviertel und beide Vorderviertel in unseren Volkswagen und fuhr damit in die Stadt. Er klopfte an fremde Türen und bot den Leuten in seinem begrenzten Englisch seine Ware an. Heute wäre er den Leuten wahrscheinlich suspekt bei solch einer Aktion.

Mit der Zeit baute Dad eine treue Kundschaft auf. Die Käufer zerlegten die Teile selbst oder brachten sie in eine Metzgerei. Das Fleisch direkt von der Farm munde ihnen besser als jenes aus dem Laden, erzählten sie Dad. Vielleicht, weil all unsere Tiere bis zur Schlachtung Magermilch zum Trinken bekamen, das «Abfallprodukt» des Rahms, den wir produzierten.

Familiensache Metzgete

Unser Anteil vom Fleisch wurde auf dem Küchentisch zerlegt. Hier kam Moms Ausbildung als diplomierte Bäuerin zum Tragen. Neben ihr auf dem Tisch lag das Heft von der Bäuerinnenschule Arenenberg, mit den Bildern und Beschreibungen zum Schlachten. Metzgete war eine Familienangelegenheit.

Wir Grösseren bekamen ein Messer zum Ausbeinen oder Kleinschneiden. Die Kleineren konnten einpacken. Der Hund wusste seinen Platz unter dem Tisch zu schätzen. Auch ich war sehr froh um ihn bei den Mahlzeiten nach dem Metzgen. Da gab es nämlich immer Leber, welche ich gar nicht mochte. Heimlich steckte ich meine Portion jeweils dem Hund zu.

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Zu kalt für Donny

Am frühen Palmsonntagmorgen, dem 22. März 1964, zeigte das Thermometer minus 40 Grad Celsius, enorm kalt für diese Jahreszeit auch für Cecil Lake. Grosse Aufregung – unsere erste Kuh kalbte zum ersten Mal, ein schönes Muneli. Obwohl Kuh und Kalb im Stall waren, froren die Ohren dieses Kalbes ab.

Meine Schwestern und ich gaben ihm den Namen Donny. Wie freuten wir uns, als Donny daraufhin einige Tage in der Holzkiste neben dem Küchenherd logierte. Er wurde reichlich gestreichelt und verwöhnt von uns Kindern. Als er wieder in den Stall entlassen wurde, trauerten wir um unser Haustier. Unsere Mutter wahrscheinlich nicht!

Warme Ohren

Abgefrorene Ohren sind heute noch ein Problem für die Rancher. Die Mutterkuhherden leben das ganze Jahr über im Freien. Manche Rancher lassen die ersten Tiere schon im Februar abkalben. Wie 1964 kann es bis in den März hinein bitterkalt werden. Auf der Ranch meiner Schwester und ihrer Familie werden die Kühe bei Kälte kurz vor dem Kalben in den Stall genommen. Damit die Ohren der Kälber nicht abfrieren, zieht ihnen meine Schwester bei extremer Kälte für die ersten Lebenstage sogenannte «Kalf Kozies» an.

Die unter eingetragener Marke verkauften «Kozies» sind so etwas wie eine Gesichtsmaske aus Faserpelzstoff. Es geht erstens um das Wohl des Kalbes, hat aber noch einen wirtschaftlichen Grund: Rinder mit abgefrorenen Ohren bringen auf dem Markt weniger Geld ein.

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Endlich Frühling

Nach so einem langen Winter sehnen sich alle nach dem Frühling. Im März sind die Tage spürbar länger, die Sonne hat schon etwas Kraft und irgendwann fängt auch in Cecil Lake der Schnee an zu tauen.

Ich habe am 21. März Geburtstag. Je nach Jahr blühen schon die Weiden und tragen Kätzchen. Oder es ist (zum Glück weniger oft) minus 30 Grad kalt. Im März halten solche Temperaturen aber nicht mehr lange an.

Es gibt ein Spektakel zu dieser Zeit, und wenn man Glück hat, ist man zur rechten Zeit beim Fluss, um dies zu beobachten. Der «Ice Breakup», wenn die dicke Eisdecke im Fluss bricht, sich die grossen Eisbrocken übereinander auftürmen und auf einmal alles weggespült wird vom kommenden Wasser. An einem Tag fährt man vorbei und das Eis hat erste Risse. Am nächsten Tag rauscht schon das dunkle Wasser.

Zu trocken?

Wichtiger als der «Ice Breakup» ist für die Farmer aber etwas anderes: Läuft genug Schmelzwasser in die «Dugouts», die Weiher, welche lebensnotwendig sind für das Vieh und die Menschen? Sorgen machen den Farmern Winter wie der heurige, der nur spärlich Schnee brachte. Noch schlimmer ist, dass schon der letzte Winter wenig Schmelzwasser brachte und die «Dugouts» noch nie so tief waren. Besonders die Rancher sind nervös. Zum Glück hat es in der letzten Woche wieder mal zünftig geschneit.

Hoffen wir das Beste. Trockene Winter verheissen meistens auch ein grösseres Risiko für Waldbrände. Nach den verheerenden Bränden vom letzten Sommer wäre das eine Katastrophe für die Natur und für die Menschen.

Zur Person:

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.[IMG 4]

Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.