Es ist die Jahreszeit, zu der mein Bruder uns immer wieder Fotos von der Getreideernte in Kanada sendet. Vom Rapsschwaden während des Nieselregens, damit die Schotten nicht so aufplatzen. Vom Dreschen an einem goldenen Herbsttag, es steht ein tiefblauer Himmel über dem weiten Weizenfeld. Da wäre ich am liebsten in Kanada am Helfen.
Ein neuer Drescher
Meine eigene Karriere als Mähdrescherfahrerin begann als 16-Jährige im Herbst 1974, als ich gerade mein letztes, das zwölfte Schuljahr begann. Unser damaliger Mitarbeiter Hans hatte einen John-Deere-55-Mähdrescher gekauft und lehrte mich damit das Fahren. Verglichen mit Dads altem, gezogenem Mähdrescher war dieser grossartig, er hatte sogar eine Kabine!
Hans hatte mir schon vieles beigebracht, was mit Maschinen zu tun hatte. Heute weiss ich: Hätte ich einen älteren oder auch nur wenig jüngeren Bruder gehabt, wäre ich höchstwahrscheinlich statt auf dem Feld in der Küche oder im Garten gewesen. Oder in der Schule.
Dieser erste Herbst auf dem Drescher bleibt mir in guter Erinnerung. In meinem Zeugnis aus jenem Schulsemester steht ein Eintrag: «Wenn Marianne mehr in der Schule gewesen wäre, hätte sie bessere Noten.» Zum Glück stand es nie schlecht mit meinen Noten. Mein Vater hatte kaum Gewissensbisse, am Morgen die Schule anzurufen, dass seine Tochter heute mit der Ernte helfen müsse. Er war sowieso der Meinung, Schule sei weniger wichtig als die Farmarbeit.
Das Auf und Ab der Preise
Schwaden auf einem ebenen Stück Land zu dreschen, ist nicht so eine Kunst. Damals legte man noch alles Getreide in Schwaden. Der Hauptgrund dafür war das gleichmässige und rasche Abreifen, da die Zeit im Herbst kostbar war. Der Winter kommt immer zu früh.
Es musste ein schöner «Indian summer» (so heisst in Kanada der Altweibersommer) gewesen sein. Am Tag sass ich schwitzend in kurzen Hosen am Steuer in der Kabine ohne Klimaanlage. Als es dunkel wurde und kalt, zog ich die wollenen gestrickten Strumpfhosen von Tante Martha an. Hat es mich nie gejuckt wegen des ganzen Gerstenstaubs? Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich war einfach glücklich.
Über diese Getreideernte schrieb mein Vater in seinem Buch «Kanada, mein neues Heimatland»: «Die Getreidepreise waren 1974 sehr hoch. Auch wenn sie wieder sanken, blieben sie doch für einige Zeit recht gut. Da hatten wir Glück. Wir hatten ein ganz schönes Rapsfeld, etwa 20 Acres (8 Hektaren). Der Raps war ein bisschen erfroren und nicht ganz trocken nach dem Dreschen. Manche Farmer waren am Zocken und glaubten, der Rapspreis steige noch mehr. Ich hatte keine andere Chance, als meinen feuchten Raps zu verkaufen, wie er war, für ungefähr acht Dollar den Buschel (Fr. 220.–/Tonne). Damals viel Geld. Ich mag etwa 3000 Dollar gelöst haben. Von da an ist der Rapspreis ständig gesunken und bei denen, die gezockt hatten, ging die Rechnung dann nicht mehr auf.»
Und so geht es heute noch. Der Getreidepreis in Kanada wird auf der Börse gehandelt. Manchmal hat derjenige Glück, der einfach verkaufen muss. Manchmal der andere, der warten kann.
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Pulverschnee auf dem Feld
In jenem Herbst kam die ganze Ernte noch vor dem Winter gut unter Dach. Nicht immer war es so. Zum Beispiel blieb 1969 einiges im Schnee liegen oder stehen, weil es im Herbst viel regnete und die Felder zu nass waren zum Befahren.
Bei einem Weizenfeld standen die Ähren zwischen Weihnachten und Neujahr immer noch schön über dem Pulverschnee. Da kam unserem Vater die Idee, er könnte es doch mit Dreschen versuchen. Es glückte ihm tatsächlich, einiges zu ernten. Der Weizen war erfroren, aber zum Füttern war er noch okay. Als ein Bauteil des Mähdreschers kaputtging, war der Spass wieder vorbei.
Land gibt es nur einmal
Ab Februar 1974, als Dad endlich das Milchkontingent bekam, nahmen die Geldnöte auf der Transpine Farm rapide ab. 1975 bot Familie Weidinger ihre Farm zum Verkauf an, da sie in den Süden von British Columbia umzog. Im Okanagan wachsen Apfel und Trauben, nicht wie im Norden, wo es nur Himbeeren und Hagenbutten gibt. So ziehen heute noch gerne ältere Menschen aus dem Norden dorthin.
Herr Weidinger meinte, Dad reiche das Geld zum Kauf nicht, aber Dad konnte die Bank und Familie Weidinger überzeugen, dass es jetzt, mit dem Milchgeld, möglich wäre. Er konnte tatsächlich die Zahlungen immer pünktlich machen.
Nach der Gant tischte Frau Weidinger einigen Gästen einen selbst gemachten dunklen süssen Cassiswein auf, auch mir. Zu Hause sang ich fröhlich beim Waschen des Milchtanks, was sonst gar nicht meine Lieblingsarbeit war.
Während der nächsten Jahre kam immer wieder mal ein Nachbar vorbei und meinte, er habe ein Stück Land zu verkaufen. Wenn irgend möglich, besonders wenn es angrenzend an die Farm war, kaufte Dad das Land. Oft meinte meine Mutter, es genüge oder das Land sei doch zu teuer. Im Rückblick war es nie zu teuer.
Land gewinnt in Kanada fast immer an Wert. Über das Landkaufen schrieb Dad: «Wenn ich nochmals in meinen Jahren wäre, ich würde noch mehr Land kaufen.» Land gibt es eben nur einmal.