Auf die tyrannische Kälte folgte 1965 der «Chinook». So sagen die Kanadier dem warmen Wind aus dem Süden, der im Winter für Tauwetter sorgt. In kurzer Zeit steigen die Temperaturen von minus 40 °C auf über 0 °C. Das ist krass, besonders für die Tiere, die draussen leben.

Bis zum Überlaufen

Der Schnee schmolz so schnell, dass das Wasser richtiggehend lief und schon im Januar den «Dugout», den Wasserteich, bis zum Überlaufen füllte. Der Damm des «Dugouts», welcher erst ein Jahr alt war, bekam einen Riss, das Wasser brach durch. Mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen – herumliegendes Baumaterial, Baumstämme und Erde – konnten meine Eltern das Loch stopfen. Das Wasser brach fortan nie mehr durch diesen Damm. Ein «Chinook» kommt hingegen immer wieder vor, aber so ein starker im Januar ist wirklich sehr selten.[IMG 2]

Mom war sicher froh um das warme Wetter. So konnten wir Kinder raus zum Spielen, und es hatte wieder mehr Platz im Haus.

Im Winter 1965 geschah etwas Tragisches. Ich lasse in der Folge meinen Vater die Geschichte erzählen, so, wie er sie in seinem Buch «Kanada, mein neues Heimatland» beschrieb. Ich habe in Klammern ab und zu eine Ergänzung eingebettet zum besseren Verständnis für uns Schweizer.

Der Vater erzählt

«Im Februar 1965 wurde es wieder kälter und der nasse Schnee gefror hart. Die harte Schicht trägt die Kinder ohne Weiteres beim Laufen, aber nicht immer Erwachsene. An einem Freitagvormittag ging der Thomas Steel, der uns im Herbst 1964 beim Dreschen geholfen hatte, in den Store (Laden). Der Freitag ist seit eh und je der Tag, an dem die Post kommt. Ich war auch im Store. Steel und ich fuhren dann mit dem Max Webb bis zu unserer Farm. (Wir hatten damals noch kein eigenes Auto, offensichtlich Thomas Steel auch nicht.)

Er kam noch zu uns für einen Kaffee und wir gaben ihm noch Butter mit. Er marschierte dann von uns auf der Road Allowance, (eine Art Feldweg) für zwei Meilen nach Norden, wo seine Farm war. Es war am Schneien von Norden her bei etwa minus 18 °C. Steel war nur leicht bekleidet, was ihn auch sicher zum schlimmen Frieren brachte.

Die Road Allowance war nun wohl früher mit einem CAT (einem Bulldozer) gepflügt worden. Eine ohnehin sehr mühsame Situation, ausser mit einem Pferd, welches seine Buben benutzten, um hier zur Schule zu kommen.»

Ein trauriges Schicksal

«Thomas Steel musste schon durch den neuen Pulverschnee waten, und dazu brach der alte harte Schnee darunter auch noch ein. Er wurde beim Kämpfen gegen das Schneegestöber und die Kälte unerhört müde und erschöpft. Drei Tage später kamen dann seine Buben und sagten im Store oder in der Schule, der Vater sei am Freitag nicht heimgekommen. Ob er wohl irgendwo Arbeit gefunden habe?

Wir ahnten sofort, wo er war. Es konnte ja kaum anders sein. Der Albert Neudorf und ich marschierten dann zusammen die Road Allowance hinauf. Etwas weiter oben sah man der Spur nach, dass er von Zeit zu Zeit am Ausruhen war und probiert hatte, ein Feuer zu machen. Dann, vielleicht etwa einen halben Kilometer mehr oder weniger vor seinem Gehöft, fanden wir ihn, den Tom Steel.

Er lag ausgestreckt am Boden im Schnee. Er hatte etwa zwei Meter den Schnee zusammen gedämmt und gepresst im Umkreis und er war Stein und Bein gefroren. Wie lange er dort wohl mit erschöpftem Herzen mit dem Erfrieren und dem Tod gekämpft haben mag am Freitag? Es war ja dann Montag, als wir ihn fanden.

Die Polizei holte ihn dann. Ich ging mit ihnen hinauf. Der eine Polizist konnte etwas Deutsch. Der sagte dann, der Steel war völlig fertig gewesen, erschöpft. Auf Englisch sagen wir ‹played out›.»

Noch immer gefährlich

Eine meiner Schwestern weiss noch, was unsere Mutter erzählte: Sie hatten so fest versucht, Steel zu überreden, er solle doch noch bei ihnen bleiben. Er wollte nicht. Seine Kinder erwarteten ihn zu Hause, habe er erwidert. Ich habe vage Erinnerungen, wie die zwei Söhne nach dem Tod ihres Vaters in die Schule kamen, ihre Sachen zusammenpackten und in die Stadt zogen. Was für eine Beklemmung ich dabei verspürte.

Noch heute wird in den kanadischen öffentlichen Medien im Winter oft gewarnt, man solle im Auto immer warme Kleidung bereithalten und ein Feuerzeug, damit man ein Feuer anzünden könnte im Fall, dass das Auto irgendwo steckenbleibt und man alleine ist. Gerade war die letzten Wochen in Kanada wieder so eine schlimme Kälte.

Wir überprüften stets das Auto: Sind die warmen Winterstiefel mit den Filzeinlagen im Auto? Warme Handschuhe, die Wollmütze? Fährt man nicht gerade auf den grösseren Hauptstrassen, kann es sein, dass es längere Zeit dauert, bis man ein anderes Auto kreuzt. Heute haben alle ein Handy, aber nicht überall hat man Empfang. Es gibt sicher Gebiete in den Schweizer Bergen, wo es ähnlich ist.

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Und die Wildtiere?

Die Situation mit dem Schnee, die Thomas Steel zum Verhängnis wurde, macht auch den wilden Tieren arg zu schaffen. Auch sie werden erschöpft beim Durchbrechen, vor allem wenn der Schnee sehr tief ist. Wenn sie unterernährt oder krank sind, kann das zum Tod führen. Kein Wunder, sind die Heuvorräte, welche um die Farmen gelagert sind, so beliebt bei den Tieren!

Zur Person:

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.[IMG 4]

Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.