Zwischen dem 20. Dezember 1964 und dem 10. Januar 1965 herrschte Dauerkälte in Kanada, mitunter bis unter minus 40 Grad Celsius. Wenn mein Vater den Fordson-500-Major-Traktor laufen lassen wollte, machte er zuerst unter dem Traktor ein Holzfeuer, damit der Motor warm genug wurde. Die Batterie nahm er ins Haus in die Wärme, sonst lief der Traktor nicht an.

Eine brandgefährliche Sache

Im Spätherbst verkleideten wir alle unsere Fenster mit einer oder zwei Schichten Plastik. Das ersetzte die fehlende zweite Fensterscheibe. Je kälter es wurde, desto mehr Eis bildete sich auf dem Plastik. Damit liessen die Fenster noch weniger Licht rein. Das Tageslicht so weit im Norden ist ohnehin schon eher düster. Hat meine Mutter unter dem vielen Dunkel gelitten? Ich selbst erinnere mich nur an die wunderschönen Eisblumen an den Fenstern.

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Dossier Dossier Kanada einfach Thursday, 10. August 2023 Zum Heizen standen in unserem Häuschen nur zwei Holzöfen zur Verfügung. In der Küche der Holzherd, auf dem die Rösti morgens und abends gebraten wurde, daneben die Holzkiste. Diese aufzufüllen, war Aufgabe von uns Kindern. Hinten im Haus befand sich die zweite Heizquelle, ein runder Blechofen. Der war nicht so gross. Sicher musste mein Vater in diesen kalten Nächten mehrmals aufstehen und Holz nachlegen, damit das Feuer nicht ausging.

In einer Nacht, die ich nie vergessen werde, riss uns unsere Mutter aus dem Schlaf. «Schnell, aufstehen!» Der dünne Blechkamin hatte zu glühen begonnen und das Holz in der Decke fing Feuer. Wir schlotterten in unseren Jacken und Pyjamas vor dem Haus, derweil Mom und Dad das Feuer bekämpften. Gott war uns gnädig, sie hatten es früh genug bemerkt, konnten es sofort löschen und wir konnten alle wieder ins Bett. Noch einmal würde sich dieses Spektakel wiederholen. Es ist eigentlich ein Wunder, dass selten ein Haus niederbrannte!

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Der Holzofen dient als Backup

Die meisten Häuser in Kanada haben heute Gasheizungen. Die Kanadier haben genug eigenes Gas, sie müssen sich nicht vor den Russen fürchten. Obwohl die Farmen ziemlich weit auseinander liegen, führt zu jeder eine Gasleitung. Einmal ist Robert und mir 1993 bei minus 30 Grad der Gasofen ausgestiegen. Das Haus war eine Art Containerhaus, wie es dort viele gibt. Hätte es länger gedauert, hätten wir das Wasser ablaufen lassen müssen und zu meinen Eltern gehen. Zum Glück währte der Stromausfall nur einige Stunden. Als wir später ein neues Haus bauten, stellten wir sicher, dass wir einen Holzofen hatten als Backup.

Wenn es zu kalt ist für die Schule

Das Haus während meiner Kindheit war recht klein. Eine offene Küche und Esszimmer, das kleine Schlafzimmer meiner Eltern neben dem offenen «Ofenraum» und ein grösseres Schlafzimmer für uns fünf Kinder. Wenn das Wetter so kalt war, konnten wir nicht draussen spielen. Dafür hatten wir den Ofenraum, sicher grösser in meinen Erinnerungen als er wirklich war! Gemütlich war es dort, der warme Ofen, meine Mutter, die bei uns sass und strickte, wir Kinder um sie herum (so erinnere ich mich jedenfalls daran). Als Mom wieder einmal auch beim kältesten Wetter zum Lüften die Tür weit aufsperrte, verflog die Gemütlichkeit. Wir Kinder begehrten laut auf.

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Bei Temperaturen unter minus 40 Grad fuhr der Schulbus nicht. Es wäre zu gefährlich gewesen. Auch bei schlimmen Winterstürmen blieb der Bus fern. Wir Kinder freuten uns immer sehr, wenn das passierte. In einem Jahr geschah das schon am ersten Dienstag im September, zum Schulanfang. Der Schulunterricht fiel gleich für einige Tage aus, weil es so viel geschneit hatte.

Die Farmer hatten sicher wenig Freude – das war zu Beginn der Getreideernte! Der Schnee schmolz wieder, die Sonne und der Wind trockneten alles, aber das Getreide lag auf dem Boden, die Qualität litt.

Das Auto besser laufen lassen

Tiefe Temperaturen erlebte ich auch mit meinem Mann und unseren zwei Jungs, als ich 1992 wieder mit ihnen nach Kanada auswanderte. Am ersten Morgen mit minus 40 Grad weinten unsere Kinder, 10 und 11 Jahre alt, als Robert nach draussen wollte. Sie waren sicher, er würde sterben – was ja nicht ganz falsch ist. Ohne gute Schutzkleidung und bei zu langem Aufenthalt wäre das schon möglich.

Wir hatten damals keine Garage für unseren Pickup. Bei dieser Kälte werden die Pneus steinhart. Wo sie auf dem Boden aufliegen, gibt es eine flache Stelle, die beim Fahren recht holpert. Damit die Autos überhaupt starten, haben sie alle eine Motorheizung, die eingesteckt werden muss. Im Norden von Kanada haben die Geschäfte beim Parkplatz Steckdosen, damit ihre Angestellten nach der Arbeit wieder nach Hause fahren können. Vor dem Abfahren wird der Motor mindestens zehn Minuten lang aufgewärmt, auch damit das Auto nicht so elend kalt ist. Wir beobachten immer wieder, wenn wir in Kanada sind, wie Menschen ihre Motorfahrzeuge die ganze Zeit laufen lassen, wenn sie in einem Geschäft einkaufen gehen.

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Robert half die ersten zwei Jahre auf der Milchfarm meiner Eltern aus. Bei extremer Kälte brauchte das Füttern mit dem Frontlader Geduld, das Hydrauliköl floss dann nur langsam. Mindestens damit musste mein Vater früher nicht kämpfen, die wenigen Kühe konnte er gut mit der Heugabel füttern.

Zur Person:

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.[IMG 6]

Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.