7. Mai 2024: Heute erlebe ich Geschichte: Ich stehe neben meinem Bruder Fred Lehmann und seiner Tochter Alexandra auf dem «Dach» der Burgoult-Sämaschine. Beide sind daran, Dünger mit der Schnecke aus dem Freightliner-Lastwagen zu laden.
Der Grossvater wäre stolz auf die Enkelin
Vor 60 Jahren, am 19. Mai 1964, befüllte Alexandras Grossvater Gottlieb Lehmann hier das erste Mal seine vier Meter breite «International»-Sämaschine mit Weizen. Nach vier Tagen hatte er mit dem Fordson-500-Traktor 14 Hektaren gesät. Allerdings waren damals erst 18 Hektaren gerodet, nicht 60, und dieses neue Feld war noch voll mit Steinen und Wurzelstöcken.
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Alexandra wird heute die gleiche Fläche in etwas mehr als einer Stunde mit Raps bestellen. Die Traktorenmarke ist immer noch die gleiche, ein blauer Ford, nur die Dimensionen sind etwas anders.
Grossvater Gottlieb wäre stolz auf seine Enkelin. Auch auf ihre zwei Schwestern, welche nach der Arbeit aushelfen. Sei es mit Eggen, Kultivieren oder dabei, Saatgut und Dünger aufs Feld zu bringen. Mein Vater war immer stolz auf seine Mädchen, wie sie mit den Farmmaschinen umgehen konnten.
Marianne auf der Maschine
Fred wurde als letztes Kind erst 1970 geboren. Meine eigene Traktoren-Karriere begann mit sechs Jahren, als Dad mich auf den Fordson setzte zum Lenken, damit meine Eltern fort-laufend die Wurzeln auf den Wagen werfen konnten.
Mit zwölf Jahren steuerte ich den Traktor zum Heupressen, dann reichten meine Beine bis zur Kupplung. Mit 17 fuhr ich den Mähdrescher. Meine Schwestern fütterten die Kühe, misteten den Stall. Alles, was heute ja eine Landwirtin in der Schweiz auch kann. Nur war es damals noch eher unüblich.
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Ein Auto schafft viele neue Möglichkeiten
Der Waldrand schimmert hellgrün mit den ersten Blättern. Fred erzählt mir, dass ein älterer Nachbar zu ihm sagte: «Wenn die ersten Blätter an den Bäumen zu sehen sind, ist es Zeit, den Weizen zu säen.» Der Raps kommt als Nächstes dran. Der feine graue Boden ist unten feucht, oben trocken, genau richtig, um Raps zu säen.
Als unsere Tante Martha uns im Sommer 1965 für ein paar Monate besuchte, war noch wenig von dieser erfolgreichen Farm zu sehen. Sie war mit 74 Jahren als pensionierte Lehrerin noch sehr rüstig und unternehmungslustig. Damals war es noch ein Überlebenskampf. Im Vorfeld ihres Besuches sandte sie etwas Geld, damit wir wieder ein Auto kaufen konnten. Es war ein weisser Volkswagen Käfer von Stanley Kemp. Bis dahin mussten wir über ein Jahr ohne eigenes Auto auskommen.
Einen öffentlichen Verkehr gab es damals und auch heute nicht nach Fort St. John. Endlich konnten wir jetzt wieder selber in die Stadt fahren mit unserem Rahm. Zum Glück gab es damals noch fast alles im Coop-Laden 3,2 Kilometer entfernt von der Farm.
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Eine Frau mit Velo war etwas Ungewohntes
Dad fuhr mit dem Traktor dorthin oder marschierte mit dem Rucksack. Die Nachbarn nahmen ihn sicher mit, wenn sie an ihm vorbeifuhren. Damals liess man niemanden am Strassenrand stehen. Mom hatte ihr Velo aus der Schweiz mitgebracht. Sie fuhr manchmal zum Laden damit, die Strasse war damals noch nicht geteert.
Einmal kam sie nach Hause und erzählte, jemand habe mit dem Pickup angehalten und wollte sie und das Velo aufladen. Er meinte es als eine Geste der Freundlichkeit. Es fuhr doch keine Frau mit dem Velo auf der Strasse!
Die Kirche war sozialer Treffpunkt
Mit dem VW Käfer konnten wir endlich wieder miteinander zur Lutheranerkirche in Fort St. John fahren, wo fast alle Schweizer hingingen. Die Kirche war ein wichtiges soziales Umfeld für uns. Da konnten meine Eltern den Austausch in ihrer Sprache führen.
Nach einigen Jahren wurde eine kleine Kirchgemeinde in Cecil Lake gegründet, diese wurde zu unserer Familie. Die meisten Leute waren junge Familien wie wir. Keine Verwandten in der Nähe zu haben, kann einsam sein, besonders in einem neuen Land. Die Erwachsenen wurden also unsere Tanten und Onkel.
Robert und ich gehen heute noch dort in den Gottesdienst, wenn wir in Cecil Lake sind, und wir fühlen uns sofort wieder zu Hause.
Tante Martha war eine grosse Hilfe
Tante Martha kam im Juni und blieb bis Ende August. Wie gerne würde ich sie fragen können, was sie dachte, als sie bei uns ankam. Ich weiss nur, was mir Jahre später erzählt wurde. Als Tante Martha wieder zurück in der Schweiz war, sagte sie der Familie dort: «Wir müssen alles tun, damit diese Familie in Kanada bleiben kann. Die Kinder sind zu wild, um wieder in die Schweiz zu kommen.»
Ich war zuerst etwas erbost, aber sie hatte sicher ein wenig recht. Wir hatten viel Freiheit und Spielraum. Niemand wohnte nebenan, der sich über unseren Lärm ärgern konnte. Unsere Eltern waren viel auf der Farm beschäftigt und hatten wenig Zeit, uns für kleinere Sachen zurechtzuweisen. Mom sagte mir später, wir Kinder hätten einander erzogen, die Älteren die Jüngeren.
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Für meine Mutter war die Tante eine grosse Hilfe, endlich eine Person, die sie unterstützte. Überall half sie mit, im Garten und im Haushalt. Als sie im September wieder abreiste, hinterliess sie eine grosse Lücke. Nicht nur wegen der Arbeit. Sie war das erste Familienmitglied, das uns aus der Schweiz besuchte. Es war dieser Kontakt zu der Heimat, das Heimweh, welches für ein paar Wochen weg war. Nun brach es wieder auf für kurze Zeit. Briefe brauchten bis zu zwei Wochen, bis sie ankamen. Kein billiges Telefon, E-Mail oder sogar Whatsapp mit Fotos ganz zu vergessen! Wer damals ausreiste, war wirklich weg.