Alles hat ein Ende, auch diese Geschichten über das Ergehen der Lehmann-Familie in Kanada. Es begann mit der Zeit der Auswanderung 1963 vom Thurgau zu einer Pionier-Farm in Cecil Lake, British Columbia, Kanada.
61 Jahre sind das jetzt. Die heutige Transpine Farm zeigt wenig von den bescheidenen Anfängen und ihren Nöten, aber auch Freuden. Wo das kleine rosa Häuschen stand, steht eine grosse Werkstatt, die Platz genug hat, damit der Mähdrescher auch im Winter an der Wärme repariert werden kann. Irgendetwas zum «Chluttere» gibt es immer mit den vielen Maschinen. Das wäre nicht Dads Ding, er haderte immer mit den mechanischen Sachen. Melken war ihm lieber.
Melken, das macht heute niemand mehr. Mein Bruder verkaufte das Milchkontingent und die über 100 Kühe 2013 und stellte auf Getreideanbau um. Er hätte recht investieren müssen für eine neue Stallinfrastruktur. Dazu kam, dass er in der weiteren Umgebung einer der letzten Milchfarmer war. Die Milch wurde jeden zweiten Tag mit dem Tanklastwagen abgeholt und in das 750 Kilometer weiter südlich gelegene Edmonton in der Provinz Alberta geführt.
Die Töchter haben Interesse
Dad hat den Abzug der Kühe noch miterlebt. Er war nicht ganz glücklich über diesen Entscheid, nach allem, was es ihn gekostet hatte, eine Milchfarm aufzubauen. Aber er akzeptierte die Umstellung und fieberte fortan mit, wenn das Wetter für das Getreide schwierig war. Freuen würde ihn, dass Freds Töchter durchwegs Interesse daran haben, die Farm weiterzuführen.
Wir sieben Kinder mussten viel und hart arbeiten auf der Farm. Anscheinend hat es uns nicht geschadet. Während Fred den Betrieb übernommen hat, haben vier von uns Schwestern einen Farmer geheiratet. Barb ist sonst mit der Farmerei verbunden. Nur Margrit, die Jüngste, ging einen anderen Weg: Sie wohnt heute in Los Angeles und ist in einer Führungsposition in der Bauindustrie tätig.
Wir waren eine sechsköpfige Familie, als wir das erste Mal kanadischen Boden betraten. Jetzt zählt die Familie 48 Personen. Vier weitere sind gestorben. Mom und Dad liegen schon eine Weile auf dem Friedhof in Cecil Lake neben Baby Ann. Sie war eine Tochter meines Bruders Fred und seiner Frau Madeleine und wurde 1996 nur sieben Tage alt. Das war die erste Beerdigung in unserer Familie. Eine zweite gab es für die Tochter meiner Nichte, nur drei Wochen nach dem Tod meiner Mutter im Oktober 2017. Das war ein happiger Herbst für unsere Familie.
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Geld aus der Schweiz
Im Juli 2021 kamen wir sieben Geschwistern zusammen, um das Haus meiner Eltern zu räumen. Unser Vater war im April gestorben, mit 86 Jahren. Am meisten Zeit verbrachten wir mit den Schachteln von Fotos, die meine Mutter aufbewahrte. Fotos von unseren Vorfahren, unseren Wurzeln. Von unserer Kindheit, den Schulabschlussfeiern, unseren Hochzeiten. Das gleiche von den Enkeln. Aber auch von der Entwicklung der Farm. Ich fand das Kassabüchlein, das mein Vater in den ersten zwei Jahren geführt hatte. Es machte uns recht betroffen, zu sehen, wie knapp das Geld war, wie oft unsere Verwandten in der Schweiz Geld schicken mussten, damit es wieder reichte. Jetzt führt Fred so eine stattliche Farm, und es hatte sogar noch Geld für alle zum Erben.
Fred stellte einen Lastwagen hin für alles, was entsorgt werden sollte. Als ich mein altes Akkordeon hineinlegte, protestierte mein Bruder. «Nein, das kannst du doch nicht!» Das Instrument hatte unsere Familienweihnachten begleitet, seit ich als Kind «Stille Nacht» spielen konnte. Im Winter vor Dads Ableben waren wir in Kanada. Als ich ein letztes Mal für ihn spielte, ging etwas kaputt – das Akkordeon war alt, es gab nichts mehr zu flicken. Es hat seinen Dienst getan. «Es ist Zeit, Fred.»
Die Familienweihnachten gibt es weiterhin. Dafür sorgt meine Schwester Barbara, die in der Nähe der Farm in einem Blockhaus wohnt. Jede Familie braucht jemanden, der dafür schaut, dass der Familienzusammenhalt nicht auseinanderdriftet. Es sind weiterhin fröhliche Feste, die allen das Herz erwärmen – auch ohne mein Akkordeon.
Der Zusammenhalt ist noch da
Cecil Lake hat sich geändert, wie jede andere Community auch. Das Schulhaus gegenüber der Farm ist verschwunden, die Schule wurde mit vier anderen zusammengelegt. An ihrer Stelle steht eine Kirche, welche unsere Familie besuchte und zum Teil immer noch besucht. Vom Laden, der am Sterben ist, habe ich schon geschrieben. Die gegenseitige Hilfe ist nicht mehr so nötig, und doch ist immer noch ein Zusammenhalt da, der in Erscheinung tritt, wenn ein Haus abbrennt oder jemand krank ist und Hilfe braucht.
Ich bin dankbar, durfte ich auf dieser Farm, in dieser Familie und dieser Community gross werden. Mein Leben ist viel reicher deswegen. Es war nicht immer einfach, ein Einwanderermädchen zu sein, aber auch das ist eine wertvolle Erfahrung. Ich bin dankbar, hatten Helen und Gottlieb Lehmann den Mut, mit ihren 30 Jahren und vier kleinen Kindern nach Kanada auszuwandern. Dankbar, für alle, die geholfen haben, damit die Farm ein Erfolg wurde. Ich finde, es hat sich gelohnt.
Zur Person:
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Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.
Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.