Mai 1963: Endlich Frühling! Wie sehnlichst mussten meine Eltern diesen ersten Frühling in Kanada erwartet haben. Als ich als Erwachsene wieder nach Kanada auswanderte, machte mir der lange Winter am meisten Mühe.

Kein Obstblüte für Thurgauer

Ende Oktober schneit es meistens, obwohl es Anfang September manchmal schon weiss ist. Wie dieses Jahr kann der Schnee noch bis Mitte April bleiben. Dazu die Kälte, die zwischen 0 und minus 40 Grad schwankt. Taut der Schnee, ist alles lange nur braun. Zuerst erscheint das zaghafte Grün der Quecken am Strassenrand. Dann endlich: die ersten grünen Blätter!

Es gab keine Obstblüte für meine Thurgauer Eltern. Als Ersatz diente das zarte Weiss von Saskatoon-Hecken, einer kanadischen Felsenbirne und die Weidenkätzchen. Erst viele Jahre später wurden Apfelbäume gezüchtet, die den harschen Wintermonaten trotzen konnten. Auch dann waren es bei Weitem keine Gravensteiner. Aber sie blühen genau so prächtig und ergeben ein feines «Öpfuschnätz».

Endlich fliessendes Wasser

Aber «Söiblueme» hatte es! Dad konnte sich einen Frühling ohne leuchtend gelbe Wiesen nicht vorstellen und hatte vorsorglich ein Säcklein Löwenzahnsamen mitgenommen. Das wäre nicht nötig gewesen. Mom war einfach froh, dass es nicht ihr Mann war, der dieses lästige Unkraut ins Land brachte. Wahrscheinlich war es ein anderer Emmentaler.

Mit der Schneeschmelze lief das Wasser in den im letzten Herbst dafür ausgegrabenen Weiher. Die Leitung zum Haus war auch bereit und endlich hatten wir fliessendes Wasser. Welch eine Erleichterung für meine Eltern, besonders für Mom. Heisses Wasser aus dem Boiler würde es zwar erst 15 Jahre später geben. Aber immerhin, kein mühsames Schleppen mit Kesseln mehr.

Eine Waschmaschine hatten wir noch keine. Mein Vater erzählte mir, dass er öfters am Sonntag mit uns in die Stadt fuhr und Mom mit uns Mädchen in die Kirche brachte. Er fuhr mit der Wäsche zum «Laundromat», einem öffentlichen Waschsalon, welche es heute noch gibt.

Niemand hatte Geld

Meine Mutter pflanzte ihren ersten kanadischen Garten. Lange Reihen Bohnen, Erbsen, Spinat, Rüebli, Randen, Kohlgewächse. Alles, was hier in der Schweiz auch wächst. Gerade weile ich einige Wochen in Kanada. Hier hat es einfach Platz! Als Robert und ich 1992 wieder in Kanada ankamen, bearbeitete Robert den Garten mit dem gleichen Traktor, mit welchem er in der Schweiz das Getreide säte. Für meine Eltern, wie für die meisten Farmer der Gegend, war der Garten überlebenswichtig. Niemand hatte Geld.

Kartoffeln als Hauptdiät

Mein Vater pflanzte sein zweites kanadisches Kartoffelfeld, darauf gab es genug für mehrere Familien. Kartoffeln waren unsere Hauptspeise, die mussten wir nicht kaufen. Rösti zum Zmorge und Znacht, Salzkartoffeln zum Zmittag. Mom verkaufte Kartoffeln im Laden, dem Cecil Lake Co-op. Dieser war drei Kilometer von unserer Farm.

Dort gab es eines des wenigen Telefone in der Gegend. Hier kamen die Telegramme an, die uns dann überbracht wurden. Sei es eine Todesanzeige oder eine Hochzeit. Erst nach vier Jahren würden auch wir ein Telefon kriegen. Bis in die 90er-Jahre konnten wir nur telefonieren, wenn keiner der anderen vier Benutzer auf der Leitung war. Manchmal hörten wir ein leises «Klick» im Hörer. Vielleicht hörte jemanden mit? Wenn der «Klick» lauter und mehrmals hintereinander kam, wussten wir, jetzt müssen wir den Schwatz beenden.

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Laden ist fast kollabiert

Der Laden wurde von den Ripleys geführt. Dort gab es alles: Gemüse, Schrauben, Milch, Kessel, Käse, Arbeitshandschuhe. Die Farmer kamen in ihrer Arbeitskleidung und den Stiefeln. Damals war der Weg in die Stadt noch mühsamer, die Strasse nicht geteert. Der Laden lief gut.

Mit den Jahren hatten die Leute mehr Geld, die Strasse wurde verbessert und der Co-op wäre fast kollabiert, wie die Tante-Emma-Läden in der Schweiz. Die Poststelle hielt ihn am Leben. Jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagmorgen kommt und geht die Post von hier aus. Die Leute kommen und kaufen noch etwas, das sie in der Stadt vergessen haben.

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Treffpunkt für Klatsch

Es riecht gut vom Kaffeetopf, der immer voll ist. Hier trifft man sich zum Gemeindeklatsch. In letzter Zeit ist das «Store Committee», also die Laden-Kommission, recht herausgefordert. Die Finanzen werden immer schwieriger. Sollen sie den Laden doch schliessen?

Endlich beschlossen sie zu tun, was Migros bei ihrer letzten Generalversammlung auch versucht hatte – Alkohol zu verkaufen. Nicht alle Mitglieder waren dafür, aber es scheint der einzige Weg zu sein, um zu überleben. Bis jetzt gibt es den Laden noch. Wer es in der Stadt versäumte, kann immer noch Milch und Käse und Batterien kaufen, wenn er seine Post abholt.

Bestellen, säen, roden

Mit dem Frühling kam eine riesige Aufgabe auf meine Eltern zu. Sie mussten lernen, Farmer in einem neuen Land zu werden. Land wollte bestellt, gesät und vor allem gerodet werden. Der grösste Teil war ja noch Wald. Davon erzähle ich nächstes Mal.

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Zur Person

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.

Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.