Ein junger Mann, nennen wir ihn hier Sven, hat im August sein erstes Lehrjahr als Landwirt begonnen. Beim mehrtägigen «Schnuppern» hat er sich in der Betriebsleiterfamilie mit den zwei kleinen Kindern sofort wohlgefühlt. Endlich darf er nach der Schulzeit seinen Traumberuf lernen. Doch jetzt ist alles anders: Sven hat Heimweh. Er kann sich schlecht auf die Arbeit konzentrieren und am Familientisch sagt er kaum ein Wort. Nach Feierabend zieht er sich traurig zurück und telefoniert mit seinen Eltern.

Die Lernenden sind meist das erste Mal von zu Hause weg

Heimweh ist ein stiller Begleiter vieler Lernenden in der Landwirtschaft. Sie wohnen meist auf dem Hof und sind oft das erste Mal weg von zu Hause. Was für viele junge Menschen ein Abenteuer ist, bedeutet für andere eine echte Herausforderung. In den ersten Wochen kommt viel Neues auf die Lernenden zu. Die Arbeiten auf dem Hof und der Umgang in der Familie sind fremd, sie kennen niemanden und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen.

Heimweh entsteht, wenn jemand eine tiefe emotionale Bindung zu einem Ort, einer Umgebung oder den Menschen dort hat und sich von diesem vertrauten Umfeld getrennt fühlt. Es ist eine Mischung aus Traurigkeit, Sehnsucht, Angst und Unsicherheit. Die Familie auf dem Betrieb leidet oft mit. Sie sucht den Fehler bei sich und ist ratlos, wie sie den jungen Menschen unterstützen kann.

Es ist okay Heimweh zu haben

Wer wahrnimmt, dass sich Lernende zurückziehen, sollte das Gespräch suchen. Ein Einfaches: «Wie geht’s dir eigentlich?» kann Türen öffnen. Anzeichen für Heimweh können Rückzug, Traurigkeit, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Kopfschmerzen, Aggressionen oder Angstzustände sein.

Was Ausbildende tun können:

  • dem Lernenden zeigen, dass er okay ist, auch mit Heimweh
  • Regelmässige Gespräche und Familienanschluss anbieten
  • Besuche zu Hause ermöglichen
  • Was der Lernende tun kann:
  • Heimweh als ein normales Gefühl akzeptieren
  • Unterstützung mit den Eltern besprechen
  • Kleine Elemente von «zu Hause» integrieren: eigenes Kissen mitbringen, Fotos aufhängen, vertraute Musik hören
  • Sich ablenken und Rückzug vermeiden

Heimweh vergeht nicht von einem Tag auf den anderen

Manchmal bleibt das Heimweh trotz aller Bemühungen unüberwindbar. Ein Lehrbetriebswechsel, bei dem Übernachten zu Hause möglich ist, kann eine Lösung sein. Er entlastet sowohl die Lernenden als auch die Betriebsfamilie. Wenn es so weit kommt, ist es wichtig, nicht nach Schuldigen zu suchen – im Wissen, dass alle ihr Bestes gegeben haben.

Heimweh vergeht nicht von einem Tag auf den anderen. Sven hat gelernt, damit umzugehen. Familienfotos an der Wand und seine eigene Bettwäsche schenken ihm ein Stück Vertrautheit. Von Daheim bekommt er regelmässig Nachrichten und Sven spürt: Er gehört dazu.

Zur Person
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Doris Brönnimann ist Bäuerin und psychosoziale Beraterin SGfB. Den Landwirtschaftsbetrieb im Kanton Bern übergaben sie und ihr Mann vor einiger Zeit der nächsten Generation. In ihrer Praxis in Köniz BE unterstützt sie Menschen bei persönlichen Schwierigkeiten, Sinnkrisen oder bei zwischenmenschlichen Konflikten. In loser Folge schreibt sie über ihren Beratungsalltag.

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