Der Praktiker packt an. Er ist ein Schaffer. Er setzt Muskelkraft, Werkzeuge und Maschinen ein, um etwas zu produzieren, Lebensmittel zum Beispiel. Er weiss mit Alltagssituationen umzugehen und findet für (fast) jedes Problem eine Lösung. Doch weiss er wirklich vollumfänglich, was er tut? Hinterfragt er das, was er tut? Oder macht er einfach so weiter, wie es seit Generationen gemacht wird?
Der Theoretiker sitzt im Büro
Der Theoretiker hat ganz viele Ideen, was in der Praxis anders gemacht werden könnte. Er hat sich viel Wissen aus Büchern angeeignet. Er führt Diskussionen, schreibt Aufsätze und besucht Konferenzen. Er sitzt oft im Büro und geht nur auf den Acker, wenn er sein Forschungsprojekt überprüfen will. Sein Werkzeug ist das Wissen. Doch kann er dieses Werkzeug überhaupt richtig anwenden, wenn er doch gar nicht viel mit der Praxis am Hut hat?
Vorurteile wirken wie Vorwürfe
Zwischen diesen beiden Extremen befinde ich mich. Auf einem Bauernhof aufgewachsen, studiere ich nun an der ETH Agrarwissenschaften. Bin ich jetzt Theoretikerin oder Praktikerin? Erzähle ich von meinem Studium, werde ich klar in die theoretische Schublade gesteckt. Dort fühle ich mich aber nicht immer wohl. In der Realität gibt es nämlich viele Nuancen zwischen den beiden Extremen. Diese Beschreibungen des Praktikers und Theoretikers sind übertrieben. Es sind Vorurteile, denen ich begegne. Sie hören sich manchmal als Vorwurf, ja fast als Beleidigung an.
Das stört mich. Es macht mich wütend, wenn Menschen davon ausgehen, dass sie alleine wegen ihres Ausbildungswegs Recht haben. Als ob die Lehre oder das Studium ein schlagendes Argument in einer Diskussion um Antibiotikaresistenz wäre. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Diese Überheblichkeit ist völlig unberechtigt und arrogant. Es behindert eine sachliche Diskussion.
Praktiker lernt vom Theoretiker und umgekehrt
Eigentlich wird es sogar erst richtig interessant, wenn verschiedene Ansätze zusammenkommen. Dabei kann der Theoretiker viel vom Praktiker lernen und umgekehrt. Das kann schwierig sein. Es kann zum Beispiel passieren, dass der Praktiker und der Theoretiker aneinander vorbeireden. Sie verstehen nicht, was der jeweils andere meint. So brauchen sie viel Zeit, um sich zu erklären – und sich über den anderen aufzuregen, der so gar nichts kapiert. Mir persönlich kommt ab und zu der eigene Stolz in die Quere. Ich gebe ungern zu, dass ich etwas nicht weiss. Ich tappe genauso in die Vorurteilsfalle, wenn ich um jeden Preis das Klischee der allwissenden Theoretikerin erfüllen will. Statt meine Wissenslücke zu zeigen, ver-
suche ich, ganz schnell zu verstehen, worum es geht. Mitunter wird das Resultat dadurch peinlicher, als mein eigentliches Unwissen gewesen wäre.
Alltägliche Situationen mit Wissen verknüpfen
Aber item. In meinem Fall hat der Dialog zwischen Theorie und Praxis schon mehrmals geklappt. Letzten Sommer war ich auf einem Bauernhof im Praktikum. Dort erlebte ich die Praxis hautnah. Ich konnte alltägliche Situationen mit dem Wissen verknüpfen, das ich im Vorlesungssaal der ETH vermittelt bekommen habe. Das bereitete mir viel Freude und erfüllte mich zugleich mit einigem Stolz. Im besten Fall – das würde mich sehr freuen – profitierte auch die Betriebsleiterin von meiner erlernten Theorie. Dann hätte also mein theoretisches Wissen auch der Praktikerin geholfen.
Ich bin mir sicher: Mein Lernerlebnis war so positiv, weil ich mich hervorragend mit meiner Chefin verstand. Ich vertraute ihr. Ich respektierte sie und fühlte mich im Gegenzug von ihr ernst genommen. Ich konnte alles fragen und musste keine Hemmungen haben, wenn ich etwas nicht wusste. Mir wurde klar: Niemand kann alles wissen. Andere helfen dir und sie helfen gerne. Wissen zu teilen kann sehr schön sein, merkte ich.
Den Werdegang nicht schlechtmachen
Was ich damit sagen will: Wenn wir unsere Vorurteile einmal beiseite schieben, kommen wir ins Gespräch. Das Verständnis für andere Ansätze wächst genauso wie der Respekt. Wir müssen weder unseren Ausbildungsweg rechtfertigen noch den anderen Werdegang schlechtmachen. Beide haben ihre Berechtigung und ihren Nutzen. Soll doch jeder machen, was ihm zusagt und was er am besten kann. Derweil profitieren wir vom Wissen der anderen. Das ist ein Gewinn für den Theoretiker, den Praktiker und die gesamte Branche. Und ganz nebenbei, leise und ohne dass wir es bemerkt hätten, haben wir nicht nur vom Wissen profitiert, sondern haben es uns selbst angeeignet. Schrittchen für Schrittchen werden wir zum Theoretiker mit praktischer Erfahrung. Oder zum Praktiker mit theoretischem Hintergrund. Wobei, die Vorurteile wollte ich ja lassen. Da habe ich wohl noch Einiges zu lernen.