Die Orientierung fällt heutzutage nicht gerade leicht. Und die Möglichkeiten, sich zu entfalten, kreativ zu handeln, sind wenig offensichtlich. Die Grössen der Äpfel sind aus verpackungstechnischen Gründen beim Grossverteiler vorgeschrieben, die Kartoffelgrösse dito. Und sauber gewaschen müssen sie alle sein. Obgleich wir wissen, dass die ungewaschenen Kartoffeln besser haltbar sind.
Harte Vorschriften der Grossverteiler
Die schmackhaften Schweizer Tomaten werden nicht zugelassen, weil sie ein wenig teurer in der Herstellung sind als die geschmacksfreie Standardware aus Andalusien. Welche notabene die Trockenheit im Herstellungsland verschärft.
Die Grossverteiler schreiben die Eigrösse, die Mastdauer und den Schlachtort der Poulets vor, den Abnahmepreis sowieso. Dass sie selbst für die entsprechenden billigen Konkurrenzprodukte im Nebenregal sorgen, bleibt dabei unerwähnt.
Die Tierrechtler verlangen die Würdigung des Huhnes und seiner individuellen Existenz und damit seines Lebensrechts auf dem Hof. Ein scheinbar sehr ehrenwerter Gedanke, der aber das Lebensrecht des Bauern negiert. Wenn die Bäuerin in das gepflegte Leben des Huhnes ihr gesamten Ersparnisse gesteckt hat, wird sie sich kein Essen mehr leisten können. Konsequenterweise darf man sagen, dass die aktuelle und moderne Forderung nach einem Lebensrecht für Hühner auf dem Hof mit dem Menschenrecht der Bäuerin kollidieren muss. Aus diesem Dilemma befreien kann sich Letztere nur, indem sie auf die Haltung des Huhnes verzichtet.
Das Wort artgerecht hat die innere Bedeutung verloren
Mit dem scheinbar so ehrenwerten Verzicht auf die Haltung des Huhnes, tut sie dann aber eigentlich dem nächsten Huhn, welches sie sich nicht mehr leisten kann, wenig Artgerechtes an. Sie negiert nämlich sein Lebensrecht, indem sie es mit Nichtexistenz belegt. Das einfache Beispiel möge zeigen, dass die radikalen Forderungen der Tierrechtler wenig menschengerecht und auch wenig tiergerecht sind. Leider hat es sich aber eingebürgert, dass jede Interessengruppe das Wort «artgerecht» verwendet. Und jede Gruppe belegt es mit einer eigenen Bedeutung. Das Wort artgerecht hat damit heutzutage seine tiefe innere Bedeutung verloren. Es ist nach Belieben verformbar geworden und zu einem Plastikwort verkommen.
Nun sagen die radikalen Artenschützer(innen), dass der Wolf keinesfalls geschossen werden darf, egal ob er Nutztiere reisst oder nicht. Dabei wissen wir aus Jahrzehnten Erfahrung im Artenschutz, egal ob es um das Spitzmaulnashorn in Tansania, den Orang Utan auf Sumatra oder den Jaguar in Brasilien geht, dass Artenschutz nur mit Unterstützung der lokalen Bevölkerung funktioniert. Bei uns wurde hingegen der Zentralismus gewählt. Die Verwunderung über die Emotionalität der Debatte erscheint da doch sehr weltfremd. Die Orientierung für den Bauern ist schon gar unmöglich.
Was heisst fair aus Sicht der Bäuerin?
Und in dieser Welt der radikalen Forderungen aus vermeintlicher Sicht der Tiere und des engen Korsetts durch die Grossverteiler sollen sich Bäuerin und Bauer zurechtfinden? Im Zusammenhang mit dem Tierwohl schlage ich deshalb einen anderen Begriff als Massstab vor: fair! Die Haltung eines Huhnes kann aus Sicht des Huhnes fair sein. Hierzu gehören Artgenossen für die soziale Interaktion, Auslauf auf Naturboden zum Scharren und Futtersuchen, sowie das individuelle Nest und die Möglichkeit zum Aufbaumen als Schutz vor dem Fressfeind.
Die Haltung eines Huhnes kann auch fair aus Sicht der Bäuerin sein. Sie darf es nach 6 Monaten schlachten und erhält einen existenzsichernden Verkaufspreis. Fair für beide Seiten. Und die dritte Seite? Den Kunden im Laden wird die Entscheidung für das Huhn aus fairer Haltung erleichtert, indem das Billigfleisch aus dem Regal verschwindet. Ein wenig Protektionismus hilft Tier- und Menschenwohl.