Herr Ellrott, was haben Sie heute schon gegessen?

Thomas Ellrott: (lacht) Ich habe heute zum Frühstück tatsächlich das Schulbrot meines Sohns gegessen. Ich hatte ihm das zubereitet, aber er brauchte es gar nicht, da Stunden ausgefallen sind. Das war ein Vollkorn-Sandwich mit Frischkäse und Truthahnbrust.

Und wie stehts so mit den Vitaminen?

Vollkornweizen enthält natürlich Vitamine, beispielsweise B und E, Fleisch ebenso, etwa B12. Es fehlt jedoch Vitamin C. Aber das können ja dann auch andere Mahlzeiten liefern, so hab ich gerade zum Lunch einen Gurkensalat gegessen als Beilage zur Pasta.

Bei uns sagt man fünfmal täglich Früchte oder Gemüse, gilt das immer noch?

Immer noch eine gute Richtschnur. Es muss aber nicht in fünf einzelnen Portionen täglich sein, man kann auch zu einer Mahlzeit drei Portionen essen, zum Beispiel zwei Handvoll Gemüse zum Lunch und zum Dessert eine Frucht. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, das gleichmässig auf den Tag zu verteilen, ich kann die Portionen auch morgen noch nachholen, das ist kein Problem.

Können Sie überhaupt noch unbelastet essen, oder sind sie ständig am analysieren?

Ich kann beim Essen sehr gut Fünfe grad sein lassen und die Profi-Perspektive ausblenden, das gelingt mir vergleichsweise gut.

Was ist Ihre liebste «Sünde»?

Ganz hoch im Kurs steht Vollmilchschokolade einer Schweizer Marke. Richtig gerne esse ich auch gebrannte Mandeln vom Jahrmarkt. Die haben eine tolle frische Note, wenn sie direkt aus dem Kupferkessel kommen. Auch Wraps oder Fajitas mag ich sehr gern. Und einen Klassiker: Sauerbraten mit Rotkohl und Klössen.

«Fleisch wird bei uns in der Zukunft nicht mehr über Quantität definiert, sondern über Qualität.»

Bei uns hat man angesichts der Diskussion oft das Gefühl, dass Fleisch und Milchprodukte zu essen schon fast strafbar ist.  Warum ist das so?

Fleisch und Milchprodukte stehen ja seit Jahrhunderten auf dem Speiseplan, sind tief in Kultur und Traditionen verankert. Jetzt gibt es neue Erkenntnisse, die uns eine andere Perspektive einnehmen lassen, Stichwort Klima und Emissionen von CO2 und Methan. Fleisch und Milchprodukte kommen dabei nicht so gut weg. Das stellt unsere Traditionen natürlich in Frage und führt zu Veränderungen im Verhalten, allerdings in verschiedenen Bevölkerungsgruppen in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es gibt jene, die ihr Verhalten bereits geändert haben. Sie sind oft besonders kommunikationsstark und so im öffentlichen Diskurs laut und gut hörbar. Die Mehrheit isst vorerst wie gewohnt weiter essen, kommuniziert aber nicht darüber. Das erklärt das Missverhältnis zwischen den medialen Botschaften und der nicht dazu kongruenten Nachfrage im Handel.

Gehen Sie davon aus, dass wir uns an die Trends Vegetarismus und Veganismus gewöhnen werden müssen?

Das ist absolut so, insbesondere in den Regionen der Welt, wo heute schon viel Fleisch gegessen wird. Bei uns wird der Fleischkonsum weiter sinken, zumal es immer mehr und immer bessere Fleischersatzprodukte gibt. Sensorisch gibt es dann gar keine Notwendigkeit, immer Fleisch zu essen. In anderen Regionen wie Asien ist es aber nicht so, hier nimmt der Fleischkonsum mit steigendem Wohlstand zu. In der Gesamtsumme ändert sich deshalb wahrscheinlich wenig. Aber ich halte es trotzdem für richtig, dass wir uns diese Gedanken machen. Kategorischer Verzicht muss aber nicht sein. Wenn wir gelegentlich ein gutes Stück Fleisch essen, ist das kein Problem. Fleisch wird bei uns in der Zukunft nicht mehr über Quantität definiert, sondern über Qualität. Das ist für Gesundheit und Klima besser.

Was heisst das?

Der Sonntagsbraten ist ein schönes Bild dafür. Wenn wir alle nur noch diesen essen würden, dann hätten wir klimatechnisch viel gewonnen. Ich will jetzt nicht sagen, wir sollen nur noch einmal wöchentlich Fleisch essen. Aber in Deutschland gibt es Menschen, die essen aus Gewohnheit dreimal täglich Fleisch. Die machen das ja nicht willentlich, um das Klima kaputtzumachen, sondern weil sie diese Gewohnheiten über Jahrzehnte entwickelt haben.

In der Schweiz sind wir etwa bei 50 Kilo Fleisch pro Jahr und Kopf. Was wäre denn aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Etwa 300 bis 600 Gramm pro Woche, so die Ernährungsfachgesellschaften. Also etwa die Hälfte. Wobei Fleisch ist ja nicht Fleisch. Aus Klimasicht ist z.B. Geflügelfleisch deutlich besser zu bewerten als Schweine- und Rindfleisch, weil das Huhn das Futter effizienter verwertet.

«Die Produktion von Proteinpflanzen ist sicher keine schlechte Alternative.»

Was empfehlen Sie der Landwirtschaft als Alternative zur Fleischproduktion?

Die Nachfrage nach nachhaltig produziertem Fleisch dürfte größer werden, hängt aber auch von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Alternativ dazu ist die heimische Produktion von Proteinpflanzen wie Erbsen und Soja sicher keine schlechte Alternative. Hier dürfte die Nachfrage klar ansteigen. Ebenso bei Gemüse und Obst aus der Region.

Was sind die Auswirkungen der Corona-Krise?

Aspekte wie Verlässlichkeit, Sicherheit und Autarkie sind dramatisch in den Vordergrund gerückt, die Klimadiskussion wurde weniger wichtig.

Handelt es sich bei der Diskussion um ein bisschen Wohlstandsverwahrlosung?

Wir haben einen hohen Wohlstand und diese wirtschaftlich sichere Lebenssituation gestattet es uns überhaupt, so weit über den Tellerrand zu blicken.

Welche weiteren Megatrends kommen noch auf uns zu?

Es gibt neben Vegetarismus und Veganismus einen weiteren Trend, der davon nicht gänzlich zu trennen ist: der Hochprotein-Trend. Das sind z.B. Molkereiprodukte, die noch extra mit Protein aufgeladen sind. Oder Riegel mit hohem Proteingehalt. Der Nährstoff Eiweiß gilt für viele im Moment als eine Art Allheilmittel, während vor allem Zucker wiederum für alles Negative steht. Vor 30 Jahren war es noch das Cholesterin. Das ist eine brutale Komplexitätsreduktion, die wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar ist. Es gibt weit mehr für Gesundheit und Krankheit relevante Nahrungsfaktoren als nur den Protein- und Zuckergehalt. Zuckerbashing auf der einen und das Hochloben des Proteins auf der anderen Seite sind aber medial ganz wunderbar inszenierbar.

 

Referent am Brennpunkt Nahrung vom 3. November

Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität in Göttingen (D). Er wird als einer von mehreren Referenten und Referentinnen am Brennpunkt Nahrung vom 3. November in Luzern auftreten. Titel seines Referates dort: «Paleo, vegan, clean eating, glutenfrei, high protein… Warum is(s)t heute keiner mehr normal? Psychologie eines Mega-Trends».