Chris Oeuvray, Sie haben ein Buch über eine Frau geschrieben, die sich in einen Narzissten verliebt. Warum?
Zum einen habe ich früher selbst in toxischen Beziehungen mit Narzissten gelebt. Doch ich konnte mich glücklicherweise daraus befreien. Zum anderen begegnet mir das Thema bei meiner Arbeit als Coach immer wieder.
Warum ist Narzissmus als Thema derzeit so präsent?
Nicht zuletzt seit der MeeToo-Kampagne kommen Themen auf den Tisch, die früher tabu waren. Dazu gehört auch, wenn man es nicht schafft, aus einer unglücklichen Beziehung mit einem Narzissten aus-
zubrechen. Früher hat man sich zu sehr dafür geschämt. Je mehr nun darüber geredet wird, desto eher erkennt man, dass man nicht allein ist mit dem Thema.
Was macht denn einen Narzissten aus?
Narzisstische Züge haben viele von uns, das ist menschlich. Ein krankhafter Narzisst hat aber vier deutliche Charakterzüge.
1. Er ist ein absoluter Egoist, der nur für seine eigenen Bedürfnisse schaut.
2. Er ist ein ausgeprägter Egozentriker. Er sieht sich als Mittelpunkt der Welt und will für sein Umfeld das Wichtigste sein.
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Was gehört noch zu einem krankhaften Narzissten?
Der dritte Punkt ist: Er strebt nach Dominanz und Kontrolle. Daher stellt ein Narzisst auch am Anfang einer Bekanntschaft viele persönliche Fragen. Nicht etwa, weil er sich sehr für die andere Person interessiert. Sondern er will wissen, wie er sie unter Kontrolle bringt, damit er sie manipulieren kann. Als vierter Punkt fehlt es ihm an Empathie. Er kann sich nicht in andere einfühlen, ist nur auf sich selbst fokussiert.
Wie zeigt sich Narzissmus?
Man unterscheidet, ob der Narzissmus gegen Aussen oder gegen Innen gelebt wird. Das ist generell unabhängig davon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Wird der Narzissmus gegen aussen gelebt, sind das oft erfolgreiche Personen, die in einem Raum schnell im Mittelpunkt stehen. Der Männer-Anteil ist dabei sehr hoch.
Und wie zeigt sich die andere Form?
Die zeigt sich in einer ewigen Opferhaltung. Zum Beispiel Mütter, die immer wieder lamentieren: «Damals habe ich dich unter grossen Schmerzen geboren. Ich habe alles für dich getan. Und jetzt bist du so undankbar.» Oder Männer, die jammern: «Alle sind immer gegen mich. Niemand beachtet mich. Ich bin nicht in der seelischen Verfassung, diesen Knopf selbst anzunähen.» Ziel ist bei beiden Varianten die Manipulation.
Was weiss man über Hintergründe der Lebenspartner von Narzissten?
Dabei spricht man von Co-Narzissten, und das sind zu 80 Prozent Frauen. Meist sind es Persönlichkeiten, die im Beruf ehrgeizig und stark sind. Viele legen auch Wert auf ein perfektes Äusseres. Sie gehen von der Annahme aus, dass sie den Narzissten ändern können, wenn sie sich nur genug Mühe geben. Sie unterstützen ihn aufopferungsvoll. Das geht so lange, bis sie ausbrannt sind.
Warum geraten vordergründig starke Frauen an solche Männer?
Weil ihnen die ich-bezogenen, weichen Qualitäten fehlen: zu sich selbst stehen, versagen dürfen, unperfekt sein dürfen, Freundlichkeit und Grosszügigkeit sich selbst gegenüber, sich Geborgenheit geben.
Wie schafft es ein Narzisst, die Frau zu überzeugen?
Zu Beginn einer Beziehung ist der Mann unglaublich aufmerksam, romantisch, grosszügig und ein toller Liebhaber. Die Frau glaubt, den Mann ihrer Träume gefunden zu haben. Endlich einer, der sie voll und ganz versteht und der sie verehrt. Doch das ist nur der Anfang.
Wie geht es weiter?
Ein Narzisst destabilisiert seinen Co-Narzissten systematisch. Er wird gemein, beleidigend, abwertend. Er isoliert seine Partnerin von Freunden und Verwandten, lügt und manipuliert. Irgendwann ist das Selbstbewusstsein der Frau völlig am Boden. Sie sucht immer und immer wieder Bestätigung beim Narzissten, doch sie bekommt sie nicht. Das ist wie bei einer Sucht. Eine zerstörerische Dynamik. Irgendwann erkennt die Frau, dass sie ihn nicht ändern kann, dass sie gescheitert ist. Für sie ist
das ein persönliches Versagen, ihre grösste Angst bewahrheitet sich.
Was hilft einer Frau in so einer Situation weiter?
Es hilft, wieder Kontakt mit Freunden und Familie aufzunehmen, von denen einem der Narzisst isoliert hat. Menschen, die einem gut tun, die unterstützen. Das ist dem Narzissten zwar ein Dorn im Auge, doch man muss es ihm nicht auf die Nase binden. Vor allem in Kontakten mit Frauen kann eine Co-Narzisstin ihr Selbstbewusstsein wieder aufbauen, weil diese ihr die Geborgenheit geben können, die sie von den narzisstischen Männern, die sie anzieht, nie kriegt. Denn erst wenn man wieder Kraft hat, schafft man es, sich aus einer toxischen Beziehung zu lösen.
Wann sollten bei einer neuen Liebe die Alarmglocken läuten?
Wenn im Umfeld alle sagen, da stimmt etwas nicht. Dann muss man die Beziehung nicht gleich abbrechen, aber zumindest bewusst in die Situation hineingehen. So realisiert man schneller, wenn es zerstörerisch wird. Wenn ich mir in einer Partnerschaft überlegen muss, ob ich zu laut atme und das den Partner aufregen könnte, ist es definitiv zu viel.
Solche Trennungen sind nicht einfach...
Viele Frauen finden den Ausstieg leider erst wenn sie erkennen, dass auch die Kinder leiden. Das ist immerhin besser als gar nicht. Wenn sich eine Co-Narzisstin entscheidet, sich zu trennen, verliert der Narzisst die Kontrolle. Das hasst er. Nicht, weil er an der Person so interessiert ist, sondern wegen des Gesichtsverlustes.
Mit welchen Reaktionen ist zu rechnen?
Es kann es passieren, dass ein Narzisst beginnt, seine Partnerin zu stalken. Oder er verspricht ihr das Blaue vom Himmel. Manchmal wird es eine Zeit lang wirklich wieder so schön wie am Anfang. Doch das ist nie nachhaltig. Sobald er das Gefühl hat, er hat sie wieder unter Kontrolle, geht der Psychoterror erneut los.
Kann das für die Frauen gefährlich werden?
Sogar sehr gefährlich. Es werden immer wieder Frauen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt umgebracht. Dann spricht man von Femizid. Dies hat oft eine Vorgeschichte, die auf einer narzisstischen, toxischen Beziehung beruht.
Mehr Schutz für die Opfer
Femizid ist auch in der Schweiz ein aktuelles Thema mit erschreckend hohen Zahlen. Im Durchschnitt stirbt alle zwei Wochen ein Mensch in Folge von häuslicher Gewalt. In drei Vierteln der Fälle sind die Opfer weiblich, wie eine Studie des Bundesamtes für Statistik gezeigt hat. Der Täter ist fast immer ein Mann, sehr oft ist er Partner, Ex-Freund oder ein naher Verwandter.
Längst nicht alle Opfer von häuslicher Gewalt erstatten Anzeige. Und wenn, ziehen viele die Anzeige aus Angst vor Repressalien wieder zurück. Am 1. Juli tritt nun eine Änderung im Zivil- und Strafrecht in Kraft, die die Opfer bei Stalking und häuslicher Gewalt besser schützt: Neu entscheidet die Strafbehörde und nicht mehr das Opfer, ob ein Verfahren eingestellt wird. Weiter können Rayon- oder Kontaktverbote künftig mit elektronischen Armbändern oder Fussfesseln überwacht werden. Zudem werden dem Opfer keine Gerichtskosten mehr auferlegt.
Kontaktadressen für Notfälle und Informationen finden sich auf den Websites der Opferhilfe Schweiz und bei der Schweizerischen Kriminalprävention.
Wie kann eine Trennung klappen?
Wichtig ist als erstes, dass man Kraft tankt und sein Selbstbewusstsein aufbaut, bevor man den Schritt wagt. Sonst geht man wieder zurück. Der zweite Punkt ist, dass man sich gut organisiert. Am besten man verschwindet in einer Nacht- und Nebel-Aktion und bringt sich und allfällige Kinder in Sicherheit. Ab diesem Moment soll man sich auf keinen Fall mehr zu persönlichen Treffen überreden lassen.
Warum nicht?
Manche Narzissten schrecken vor nichts zurück, um den Partner zurückzugewinnen. Die ersten zwölf Monate sind die gefährlichste Zeit. Nochmals sehr schwierig kann es um den Scheidungstermin werden.
Wie kann man sich in dieser Zeit schützen?
Auch bei Psychoterror kann man bei der Polizei Anzeige erstatten. Wichtig ist, dass man sich gleich an die Fachleute der Abteilung für häusliche Gewalt wendet. Die haben die nötige Ausbildung und Erfahrung.
Was kann man tun, wenn die Schwester, Freundin oder Tochter in einer toxischen Beziehung steckt?
Für die Betroffene da sein, ohne Vorwürfe. Es nicht persönlich nehmen, wenn der Co-Narzisst zum Narzissten zurückgeht, einmal, zweimal dreimal. Mehrere Anläufe sind die Regel.
Warum greifen Sie das Thema in einem Thriller auf?
Erst wollte ich ein Sachbuch schreiben. Doch ich hoffe, mit einem Roman mehr Menschen zu erreichen. Deshalb habe ich Wissen und Erfahrung in einen Thriller gepackt. Ich möchte Betroffenen, deren Angehörigen und Freunden aufzeigen, dass sie mit ihrem Thema nicht allein sind, damit sie ihre Situation realistisch einschätzen und allenfalls schneller ausbrechen können.
Beschreiben Sie im Buch eigene Erfahrungen?
Das Buch ist keine Autobiografie. Auch aus Respekt meinem Kind und meiner Familie gegenüber, wollte ich nicht aus meinem Leben erzählen. Aber natürlich fliesst das eine oder andere hinein. Ich war früher selbst in toxischen Beziehungen.
Was hat sich an Ihrem Beziehungsverhalten geändert?
Ich habe viel an mir gearbeitet und schaffte es, auszubrechen. Ich wollte einen anderen Typ Männer anziehen. Heute lebe ich in einer glücklichen Herzensbeziehung. Am Anfang war das eine Herausforderung, weil da kein Terror war, keine Kontrolle, keine Besitzansprüche. Das habe ich früher mit Liebe verwechselt. Doch wahre Liebe lässt frei. Ich habe gelernt, dass es Liebe ist, wenn man so akzeptiert wird, wie man ist, und wenn man füreinander da ist.
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Chris Oeuvray
Tödlich Verliebt
Amsel Verlag, 288 Seiten, Preis inklusive Versand Fr. 42.90
Melanie verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Ronald, sie schwebt im siebten Himmel. Sie heiraten, werden Eltern. Immer mehr zeigt Ronald nun ein anderes Gesicht. Er überwacht und erniedrigt sie. Um eine Trennung zu verhindern, ist ihm jedes Druckmittel recht.
Zur Person
Chris Oeuvray arbeitete ursprünglich in der Finanzbrache und dann zwei Jahre als Tauchlehrerin in der Karibik. Zurück in der Schweiz, machte sie verschiedene Aus- und Weiterbildungen im Coaching-Bereich. Seit 20 Jahren ist die 52-Jährige als selbstständige Lebensberaterin und Mentaltrainerin tätig.
Chris Oeuvray lebt mit ihrem Sohn und ihrem Lebenspartner in Zug. «Je mehr über Narzissmus in Beziehungen geredet wird, desto eher erkennen Betroffene, dass sie nicht allein sind mit dem Thema», sagt Chris Oeuvray.
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