Wer die Landwirtschaft und agrarpolitische Debatten verfolgt, der weiss, dass Wein gefragt ist – nicht nur zum trinken, sondern als Beispiel. Der Weinmarkt und dessen Entwicklung ist nämlich immer dann gefragt, wenn jemand belegen will, wie förderlich Freihandel für die Qualität von Produkten und Dienstleistungen ist. Die Geschichte geht dann normalerweise so: Bis Anfang der 1990er-Jahre subventionierte der Staat die Produktion von Schweizer Wein, der zuletzt kaum mehr trinkbar war. Dann wurde die Preisstützung aufgehoben, seither ist die Qualität und damit die Kundenzufriedenheit gestiegen – fast ohne Bundessubventionen und nur dank Wettbewerb und Innovation hat sich die Branche selbst gerettet.
Die Kräfte des Freihandels sind schwer zu beherrschen
Die Interpretation der Geschichte einer Branche, die sich selbst rettet, nachdem
der Staat sich zurückzieht, ist zwar nicht falsch. Aber sie lässt vergessen, dass mit dem Freihandel Kräfte entfesselt werden, die zu beherrschen längst nicht alle in der Lage sind. Deutlich wird das bei der Betrachtung des Gesamtproduktionswerts der letzten dreissig Jahre: Der Wert der hergestellten Weine schwankte in den letzten drei Dekaden zwischen 350 und 520 Millionen Franken, wobei die Tendenz der letzten Jahre verhalten nach oben wies. Anders ist der Wert der hergestellten Weintrauben seit 1989 kontinuierlich zurückgegangen. 1989 waren die Trauben fast gleich viel wert wie der in der Schweiz hergestellte Wein. Mittlerweile sind die hergestellten Trauben nicht einmal mehr halb so viel wert wie der aus ihnen gekelterte Wein. Die Zahlen lassen erahnen, dass sich die Weinbranche in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Und sie legen den Schluss nahe, dass dabei vor allem die Weinbauern die Rechnung bezahlen müssen: während die Anbauflächen nämlich insgesamt ziemlich konstant blieben, war der auf ihnen generierte Umsatz rückläufig.
Die Trauben bestimmen nicht länger den Weinpreis
Diese Entwicklung macht ein Muster deutlich, das grundsätzlich für Innovationen gilt: Kundenbedürfnisse verändern sich mit den geschaffenen Angeboten. Am Schweizer Wein lässt sich das bestens zeigen. Dieser wurde zunächst trinkbar, dann entschied die Verarbeitungsqualität und später das Marketing darüber, wie viel Schweizer Wein noch abgesetzt werden konnte. Die Weintrauben sind nicht mehr das für die Preisbildung entscheidende Merkmal. Statt der Traube entscheidet die Leistung der Kellereien und der Händler darüber, wie gross die Zahlungsbereitschaft der Kunden ist.
Man ruft zurecht nach dem Staat
Die Folge dieser Verschiebungen kann man in allen agrarpolitischen Arenen beobachten – von der Industriemilch über das Schweinefleisch bis hin zum Weizen: Produzenten müssen sich damit arrangieren, dass die Preise gerade so die durchschnittlichen Produktionskosten decken können. Konsequent und eindimensional zu Ende gedacht bedeutet das, dass Innovation nicht die Sache der Landwirte sein kann. Dass deshalb der Ruf nach dem Staat erschallt, sobald die Marktlage ungemütlich wird, ist so gesehen nicht nur richtig, sondern zwingend – sofern der Verfassungsauftrag ernst genommen werden soll.
Der Staat bringt nur kurzfristige Lösungen
Da sich Märkte – und damit Menschen – aber nicht eindimensional verhalten, lässt sich aber ebenfalls am Weinmarkt illustrieren. Gemäss der «Bilanz» hat es noch nie so viele Weinhändler gegeben – rund 3600 sollen es sein, die um die Gunst der Weinliebhaber buhlen. Mit Sonderangeboten, speziellen Auslesen, speziellen Abfüllungen, Events und allem, was das Marketing hergibt. Daneben entwickelt sich langsam ein Markt für Bio-Wein, der sich über die Herstellungsweise differenziert. Dazu sind dann Innovationen vonseiten der Produzenten notwendig, um die neuen Anforderungen zu erfüllen. Spätestens hier wird deutlich, dass wer in einem ungemütlichen Markt feststeckt, nicht nur nach dem Staat rufen sollte. Dieser kann nämlich die Probleme in der Vermarktung bestenfalls kurzfristig lösen.
Es gilt, professionell und überlegt zu handeln
Für die Kunden sind das gute Neuigkeiten – sie können in Bezug auf die Qualität und die Preise tatsächlich mit besseren Angeboten rechnen. Für Weinbauern und Weinhändler indes schafft der Druck die Notwendigkeit, professionell und wirklich überlegt zu handeln. Wer das nicht kann, der sollte sich besser heute als morgen aus dem Markt verabschieden. Auch das ist eine Folge der in den 1990er-Jahren eingeleiteten Marktliberalisierung. «In vino veritas» heisst es – im Wein liegt die Wahrheit. Tatsächlich entscheidet die gewählte Perspektive, wie diese Wahrheit aussieht.