Wer noch einen Stier hält, lässt diesen selten älter als vier bis fünf Jahre werden und ersetzt ihn dann durch einen neuen Stier, um am Zuchtfortschritt teilzuhaben und um Inzucht zu vermeiden. Stier Gral Gospel auf dem Hof von Pius ­Kamer in Benken SG ist mit vierzehneinhalb Jahren immer noch erfolgreich im Einsatz. Guter Charakter und Umgang sowie hohe Fruchtbarkeit machen das möglich.

Zweimal dem Tod entronnen

Zuerst sah es gar nicht danach aus, dass Gospel alt werden würde. Im Jahre 2005 auf dem Hof von Thomas Müller in Grüningen ZH geboren, fand er selbst im Alter von anderthalb Jahren noch kein Interesse an den jungen «Damen» auf dem Milchviehbetrieb, so dass ihn sein Besitzer zum Schlachten geben wollte. Erich Meier, ein Kollege des Landwirtes und Freund der Original Braunen Rasse, riet ihm jedoch, mit dem Verkauf des gut gewachsenen und zutraulichen Original Braunen Stieres zuzuwarten. Er versuchte, die Sprunglust des Stieres mit homöopathischen Mitteln zu fördern, und hatte damit tatsächlich Erfolg. Bis zum Alter von sechs Jahren deckte Gospel die Kühe in Müllers Herde, dann war es Zeit für eine Blutauffrischung und er sollte abermals zur Schlachtung kommen. Ein zweites Mal rettete Meier Gospel das Leben, indem er ihn an Pius Kamer vermittelte, der einen Ersatz für seinen vierjährigen, immer unberechenbarer werdenden Stier Laubi suchte.

Vollfleischige Kälber

«Gospel gefällt mir und bringt vollfleischige Kälber», begründet Kamer den Einsatz des Stieres in seiner Herde. Er hält 30 Kühe der Rassen Braunvieh, Holstein und Red Holstein sowie die Kreuzungsprodukte mit dem Original Braunen Gospel. Die durchschnittliche Milchleistung der Kühe liegt bei 8000 Kilogramm. Die Kreuzungen profitieren bei der Milchleistung vom Heterosiseffekt. Sie sind dank der OB-Einkreuzung stärker bemuskelt und oft auch robuster als die reinrassigen. Kamer schätzt vor allem die gesunden Klauen und die gute Verwertung des Grundfutters. «Die Kälber saufen sehr gut von Geburt weg, super Saugreflex», fügt Sohn Florian hinzu. Eine Eigenschaft, die Gospel auffallend gut vererbe. Gospel ist im Stall bei den Kühen angebunden. Er verfügt über einen grossen Extraplatz und seine Kette ist so lang, dass er parallel zur Krippe liegen und zu den Kühen schauen kann. Gospel scheint dort zufrieden zu sein. Er merke genau, wenn eine Kuh stierig wird, erzählt Kamer. Im Winter darf Gospel sogar frei durch den Stall gehen. Findet er eine stierige Kuh, dann führt sein Besitzer Stier und Kuh auf den Stallvorplatz. Der Stier erkennt am Harn nicht nur, ob eine Kuh aufnahmebereit ist, er könne sogar 80 Kühe am Geschmack des Urins erkennen, weiss Kamer zu berichten.

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So gutmütig ist Gospel nur bei seinem Besitzer. (Bild Michael Götz)

Im Sommer ist der Stier mit den Kühen auf den Weiden, die sich alle in Stallnähe befinden. Das Besondere an Gospel ist sein friedlicher Charakter und das gute Verhältnis zu seinem Besitzer. «Er akzeptiert mich als Herdenmitglied», sagt Kamer. Basis für das gute Auskommen von Mensch und Tier ist sowohl Vertrauen als auch Respekt auf beiden Seiten. Kamer legt Wert darauf, seinen Stier jeden Tag anzusprechen und ihn zu kraulen. Die Freundschaft zum Stier will offensichtlich gepflegt sein. «Der Stier vergisst nichts», sagt Kamer. Der Stier ist also nicht immer so lammfromm, wie er sich mit seinem Besitzer präsentiert. «Fremde dürfen nicht einfach zu den Kühen», sagt der Landwirt. Solange niemand die Weide betritt, ist Gospel friedlich, aber seine Kühe schützt er vor Eindringlingen. Auf eine Aggression des zwischen 1100 und 1200 kg schweren Stieres möchte es niemand ankommen lassen. «Der Stier ist immer bei der Herde», sagt Kamer. Eine wichtige Voraussetzung für den Stier, um ausgeglichen und zufrieden zu sein.

Mehrfach ausgezeichnet

Insgesamt hat Gospel 270 Nachkommen aus Natursprung, wovon 100 Kühe, die noch leben. Die meisten werden als Milchkühe gehalten, Gospel ist auch im Fleischrinderherdebuch FLHB von Mutterkuh Schweiz anerkannt. Das heisst, er vererbt Fleischigkeit und Fleischqualität. Sein Fitnesswert beträgt 128, liegt also beträchtlich über dem Durchschnitt von 100. Seinen Nachkommen vererbe er vor allem Langlebigkeit, Vitalität, Fruchtbarkeit und gesunde Nachkommen (siehe Abstammungsausweis). Dass Gospel ein aussergewöhnlicher Stier ist, belegen seine Auszeichnungen. Im Jahre 2011 wurde der damals sechsjährige Stier am Zuchtstierenmarkt Zug zum Mister der Original Braunen erkoren. Neun Mal erhielt er in Zug eine Goldmedaille. Im Jahr 2017 erhielt der Stier die Auszeichnung zum Mister Wattwil.

Wohl wegen der Freundschaft zu Gospel möchte der Besitzer den betagten Stier behalten. So lange er fruchtbar ist, darf er bleiben. «Wir hoffen noch auf die zehnte Goldmedaille in Zug», sagt Kamer. 

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Im Sommer ist der Stier jeweils mit den Kühen auf den Weiden, die sich alle in Stallnähe befinden. Solange niemand die Weide betritt, ist er friedlich. (Bild Michael Götz)

 

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