2020 ist für die Landwirtschaft ein Schicksalsjahr. Das hat der Schweizer Bauernverband Anfang Januar gesagt. Denn erstens stehen bis Ende Jahr wohl zwei Initiativen zur Abstimmung. Zweitens ist mit einer ordentlichen Debatte rund um die AP 22+ zu rechnen. In beiden Fällen muss der SBV dafür sorgen, dass die immer vielfältigere Schweizer Landwirtschaft möglichst geschlossen auftritt. Bis jetzt funktioniert das hervorragend. Der SBV setzt dabei auf zwei grosse Erzählungen.

Die Opferrolle gefällt

So gefällt sich die Branche einerseits darin, sich als Opfer zu sehen: Als Opfer der Medien, die nicht wissen, was Landwirtschaft ist, einseitig und kritisch darüber berichten, was auf der Scholle passiert. Als Opfer politischer Spielchen, bei denen die Banken, die Pharma- und die Nahrungsmittelindustrie die Nase vorne haben. Als Opfer der Umstände, wenn die Effizienzgewinne in der Produktion mit tieferen Preisen kompensiert werden und Ökonomen von der landwirtschaftlichen Tretmühle sprechen. Die zweite Erzählung betont, wie viel die Landwirtschaft in der Schweiz schon macht – für die Umwelt, das Tierwohl, die dezentrale Besiedelung, die Offenhaltung der Kulturlandschaft. Die Landwirtschaft quasi als Schweizer Sackmesser: ein Werkzeug für jedes Problem.

Das bringt ein wohliges Gefühl 

Beide Erzählungen werden in der Stadt mal mehr, mal weniger gut gehört. Sie kommen in erster Linie beim bäuerlichen Publikum gut an. Mehr noch – die Betonung dessen, was die Landwirtschaft schon macht, und die Kritik daran, dass das nicht gesehen wird, sorgen für ein wohliges Gefühl der Zusammengehörigkeit unter Bauern und Bäuerinnen, unter Landwirtinnen und Landwirten und allen, die in dieser Branche unterwegs sind.

«Wir» gegen «sie»

Kein Wunder also, ruft der Bauernverband 2020 zum Schicksalsjahr aus – zum Jahr, in dem Landwirtinnen und Landwirte zusammenstehen und gemeinsam kämpfen sollen. Wofür? Natürlich für die Schweizer Landwirtschaft, eine Landwirtschaft für Mensch, Tier und Umwelt. Wogegen? Natürlich gegen die Trinkwasser- und die Pestizidverbots-Intiative, gegen die Verbürokratisierung der Landwirtschaft und gegen zu markante Änderungen in der Agrarpolitik. Die Grundhaltung dabei ist: «Wir, die Landwirtschaft, gegen sie», wobei «sie» wahlweise mit dem Bundesamt für Landwirtschaft, mit Konsumenten, Abnehmern, Journalisten, Wirtschaftsvertretern oder dem Bundesrat ersetzt werden kann.

Einfachere Kommunikation

Die beiden Erzählungen machen durchaus Sinn: Sie sorgen für klare Verhältnisse, die Unterscheidung in Freund und Feind ist einfacher, was wiederum die Positionsbezüge erleichtert. Das vereinfacht die Kommunikation nach innen und nach aussen, sowohl in den Medien als auch im Parlament, in den Spitzengesprächen mit dem Detailhandel oder den Konsumentenschützern. Damit das funktioniert, müssen die Landwirtinnen und Landwirte sich als Gruppe von der übrigen Bevölkerung unterscheiden lassen.

Arbeitsplätze schwinden stetig

Und genau das wird immer schwieriger. Einerseits, weil die Landwirtschaft auf partnerschaftliche Beziehungen zu allen Anspruchsgruppen angewiesen ist. Andererseits, weil der Strukturwandel fortschreitet: Nicht nur die Wirtschaftsleistung ist aufgrund der natürlichen Grenzen der Produktion beschränkt; auch die Zahl der Arbeitnehmenden in der Landwirtschaft sinkt massiv.

Gemäss Bundesamt für Landwirtschaft arbeiteten 2018 noch 152 42 Menschen in der Landwirtschaft. Im Jahr 2000 waren es über 203'000; 1990 waren es sogar über 250'000 Beschäftigte in der Landwirtschaft. Innerhalb von nur einer Generation  verschwanden vier von zehn Arbeitsplätzen im Primärsektor. Geht der Strukturwandel so weiter, gibt es in 30 Jahren nur noch gut 91'000 Beschäftigte in der Landwirtschaft. Bis in 60 Jahren würden bei gleichbleibendem Strukturwandel zwei von drei Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft verschwinden. Die Wir-gegen-sie-Haltung ist so gesehen nur  kurzfristig ein guter Ratgeber. Langfristig steht die Landwirtschaft aber auf verlorenem Posten, irgendwann kann niemand mehr zum «wir» gezählt werden.

Wer ist die Landwirtschaft der Zukunft?

Damit stellt sich langfristig eine ganz andere Frage: Wie sieht die Landwirtschaft dann aus, wenn keine Grenze mehr gezogen werden kann zwischen der Gemeinschaft der Landwirte und der übrigen Gesellschaft? Wie sieht die Welt aus, wenn die Landwirtschaft in der heutigen Form nicht mehr existiert?

Eine einfache Antwort auf diese Frage kann bestenfalls rückblickend gegeben werden. Sicher bleibt, dass Menschen essen und dass Nahrungsmittel produziert werden müssen. Offen ist, ob die Nahrungsmittelproduzenten in 30 oder 60 Jahren noch Landwirte genannt werden. Und offen ist, welchen Ansprüchen, Wünschen und Idealen diese Menschen dann genügen wollen, können und müssen