Woronesch Es ist dunkel, als der Bus mit einer Gruppe deutscher Agrarunternehmer die Auffahrt entlangfährt. Schemenhaft zeichnet sich der Hof beim Heranfahren ab. Die Luft riecht nach Gülle; hier und da ertönt ein Muhen, als die Gruppe aussteigt. Am Eingang des Betriebes wartet bereits der Geschäftsführer. Der grossgewachsene Blonde wirkt müde, aber das kann man Stefan Dürr, der zu den vier grössten Milchproduzenten Russlands gehört, nicht verübeln.
Deutsch-Russische Arbeit
In der Aula des obersten Stockwerkes wartet auf die Reisenden bereits eine reich aufgedeckte Tafel mit russischen Köstlichkeiten. Sie müssen sich aber noch gedulden, bevor sie zulangen dürfen. Denn Stefan Dürr möchte zuerst mit ihnen seine Erfolgsgeschichte teilen.
Stefan Dürrs Karriere im Osten begann vor etwa 30 Jahren als er 25-jährig im Rahmen eines deutsch-russischen Praktikantenaustausches nach Russland kam. Der heute 55-Jährige aus einer Kleinstadt im Norden Baden-Württembergs war damals einer der ersten westeuropäischen Praktikanten nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit diesen Erfahrungen im Gepäck organisierte der Landwirt anschliessend Reisen für Vertreter der russischen Agrarverwaltung zu ostdeutschen Landwirtschaftsunternehmen. Etwas mehr als 10 Jahre später zog es Dürr zurück
nach Russland. In der Oblast (Bezirk) Woronesch gründete er seinen eigenen Landwirtschaftsbetrieb mit dem Namen "Ekoniva", auf dessen Grund und Boden sich die Reisegruppe nun befindet. Nach bescheidenen Anfängen verfügt die Agrar-Holdinggesellschaft heute über acht regionale Standorte in Russland (s. Grafik) mit einer Gesamtfläche von 535 000 Hektaren – ähnlich gross ist der Kanton Bern. Sie zählt damit zu den grössten Agrarunternehmen Russlands.
Während Stefan Dürr weitererzählt, fokussiert die Kamera des ebenfalls anwesenden russischen Fernsehens auf die Gruppe der Agrarunternehmer, wie sie beim Zuhören das Produktesortiment an Kefir, Joghurt, Käse, Milch und Quark aus eigener Molkerei verköstigen; und schwenkt wieder auf den Erzählenden.
900 Tonnen Milch pro Tag
In Woronesch bewirtschaftet der Unternehmer zirka 140 000 Hektaren. Auf dieser Fläche werden neben Futterkulturen für die Rindviehversorgung auch Kulturen für den Verkauf angebaut. Aber das Kerngeschäft ist die Milchviehhaltung. Allein in Woronesch verteilen sich auf mehreren Milchviehanlagen 32 000 Milchkühe der Agrar-Holding. 2800 davon stehen in den Ställen hinter uns. "Von diesen melken wir zirka 87 Prozent, der Rest sind Trockensteher", sagt der Geschäftsführer und deutet auf die Fensterfront der Aula.
"In Woronesch halten wir 32 000 Milchkühe in mehreren Anlagen."
Stefan Dürr ist Geschäftsführer der russischen Agrar-Holdinggesellschaft Ekoniva.
Beim Hindurchschauen bietet sich ein eindrückliches Bild. Denn dahinter befindet sich ein Indoor-Melkkarussell, das gerade 72 Holstein-Friesian-Kühe gleichzeitig melkt. "Die Kühe werden dreimal täglich gemolken", erzählt Stefan Dürr. Innerhalb von 24 Stunden gehen somit 7000 Milchkühe durch das Karussell, die 900 Tonnen Milch produzieren. Zwischen zwei Kühen tauchen die flinken Hände einer Melkerin auf, die die Euter reinigt und den Zitzenbecher ansetzt.
1000 Kühe pro Stall
Während sich das Melkkarussell weiterdreht, begleitet der Ekoniva-Geschäftsführer die Reisegruppe nun hinunter in die Stallanlage. Die erwähnte Grösse lässt sich im Dunkeln nur schwer erahnen. Es ist frisch draussen, aber nicht so kalt wie man in einem russischen Oktober annehmen würde. Als die Reisegruppe einen der drei Laufstallanlagen des Betriebes betritt, glotzen einige Milchkühe neugierig auf. Nun zeigt sich im schwachen Licht des Stalls das Ausmass: Knapp 1000 Milchkühe finden hier Platz, ohne dicht aneinandergedrängt zu stehen. Einige machen es sich in den Liegeboxen auf dem Sackmehl gemütlich, andere mahlen genüsslich an ihrer Gras-Mais-Silage weiter. Über ihnen hängen grosse Ventilatoren, die an heissen Tagen Abkühlung schenken. Am Stall-ende begegnet den Reisenden eine Gruppe frei umherlaufender Milchkühe auf ihrem Weg in den Aussenbereich.
Betriebsspiegel
Name: Stefan Dürr
Ort: Russland (8 Standorte, eine in Woronesch)
Betriebsfläche: 535 000 ha LN
Viehbestand: Über 143 000 Rinder, davon 75 000 Milchkühe
Milchleistung: 2000 Tonnen Rohmilch/Tag, 29 kg Milch/Kuh/Tag
Geschäftsfelder: Milchviehhaltung, Milchverarbeitung, Ackerbau, Saatgutproduktion- und Züchtung, Mutterkuhhaltung, Ökologische Landwirtschaft
Arbeitskräfte: Insgesamt über 10 000 Mitarbeiter
Hochgesteckte Ziele
Trotz der immensen Grösse ist Stefan Dürrs Ziel noch lange nicht erreicht. Mit Unterstützung vom russischen Staat durch Kredite ist es ihm gelungen, in die Top Ten der weltweit grössten Rohmilchproduzenten aufzusteigen. Seine Stallplatzkapazitäten will der bereits in Russland Eingebürgerte aber noch weiter ausbauen. Die Milchkuhherde soll bis Ende des Jahres auf 100 000 Tiere erweitert und die Tagesproduktion auf zirka 3000 Tonnen Rohmilch gesteigert werden.
Damit würde die Agrar-Holdinggesellschaft die Nummer 1 unter den Milchproduzenten werden. Diese Zahlen muss die Reisegruppe erst einmal verdauen. Dafür bietet die mit Speisen üppig beladene Tafel in der Aula nun endlich die beste Gelegenheit. Katrin Erfurt
Weitere Informationen: www.ekosem-agrar.de