Trockenwiesen und -weiden (TWW) zeichnen sich durch besonders hohe Biodiversität aus. Sie sind das Zuhause von seltenen Pflanzen, Schmetterlingen, Heuschrecken und Reptilien. Seit 1900 ist die Anzahl an TWW in der Schweiz um 95 Prozent zurückgegangen. Grund dafür ist die immer seltenere landwirtschaftliche Nutzung dieser Flächen. Häufig seien sie zu unwegsam und damit unwirtschaftlich, erklärt Pierre Coulin, Leiter des Projektes «Wanderziegenherde» von Oekoskop.
Optimaler Weidedruck
Das Projekt besteht bereits seit 2018 und durchlief zunächst eine vierjährige Pilotphase. Ziel ist es, viele der brachliegenden TWW wieder landwirtschaftlich zu nutzen. So kann die Verbuschung bekämpft werden und die seltenen Pflanzen erhalten wieder genug Licht und Wärme zum Überleben. Dafür wurden bisher brachliegende Trockenstandorte im Churer Rheintal bis zum Furkapass mit einer Ziegenherde bestossen. Die rund 200 Tiere waren von April bis Oktober unterwegs. Um einen optimalen Weidedruck und damit optimalen ökologischen Nutzen zu erzeugen, wurden die Flächen mit Zäunen unterteilt.
Ein Teil der Ziegen konnte im Herbst geschlachtet und das Fleisch als Trockenwürste bei Coop unter dem Label Pro Montagna vermarktet werden. «2020 wurden um die 50 Ziegen geschlachtet und insgesamt zehntausend Würste an Coop verkauft», berichtet Pierre Coulin.
Finanzierung ist schwierig
2021 endete nun die Pilotphase des Projektes. Projektleiter Pierre Coulin zieht eine Bilanz: «Sowohl die ökologischen als auch landwirtschaftlichen Ziele haben wir erreicht.» So habe die Artenvielfalt auf den bestossenen Weiden messbar zugenommen. Auch die Ziegen erfreuten sich bester Gesundheit und seien die ganze Saison mit ausreichend Futter versorgt gewesen. Einzig die ökonomische Komponente habe noch Verbesserungsbedarf, gibt Coulin zu. «Die Finanzierung ist der grosse Knackpunkt.» Zwar zahle der Bund Sömmerungsbeiträge aus, doch werden diese pro Grossvieheinheit und Tag berechnet. Für das Wanderziegenprojekt ein Problem, denn um die Artenvielfalt zu erhalten, ist der Tierbestand auf den Flächen begrenzt. So kommt es, dass die bisher gezahlten Beiträge die anfallenden Kosten nicht decken. [IMG 1]
Höhere Sömmerungsbeiträge benötigt
Abhilfe könnten höhere Sömmerungsbeiträge schaffen oder eine Berücksichtigung der ökologischen Leistungen der Ziegen im Biodiversitätsbeitrag. Um diese Veränderungen zu rechtfertigen, geht das Projekt von 2022 bis 2024 in die zweite Runde und sammelt gemeinsam mit weiteren Ziegenprojekten in der Schweiz Grundlagendaten. Sie sollen aufzeigen, was für Beiträge notwendig wären, um ökologie- und naturschutzfördernde Nutzungen kostendeckender zu gestalten.
In der kommenden Alpsaison von Mai bis Oktober sollen dafür wieder rund 200 Ziegen gemeinsam mit einem Hirtenteam unterwegs sein. Die Tiere sind im Gebiet Lugnez und Tujetsch GR sowie im Urserental UR auf rund 60 Hektaren unterwegs. Um die lokale Bevölkerung über das Projekt zu informieren, sollen laminierte Plakate in der Nähe der Herden aufgestellt werden.
Ziegen gesucht
Für die Wanderziegenherde werden 200 Ziegen für den Zeitraum von Ende Mai bis Mitte Oktober gesucht. Es eignen sich Jung- und Galtziegen, egal welcher Label und Rassen. Da die Flächen sehr unwegsam sind, können die Tiere dort nicht gemolken werden. Es muss keine Mindestanzahl an Tieren vorbeigebracht werden, auch zwei oder drei Tiere sind willkommen. Tierhalter(innen) zahlen 50 Franken pro Tier und Alpsaison. Interessierte melden sich bei Pierre Coulin: pierre.coulin@oekoskop.ch, Tel. 079 401 63 63.
Keine Verluste durch Wölfe
«Für den Schutz vor dem Wolf arbeiten wir eng mit dem Herdenschutzverband zusammen», so Pierre Coulin. Neben Wolfsschutzbändern, Zäunen, vier Litzen und einer Stromspannung von mindestens 3000 Volt sollen Glocken die Ziegen schützen. Einzig auf einen Herdenschutzhund werde verzichtet, da durch die unterschiedliche Herkunft der Ziegen nicht alle daran gewöhnt seien. «In den vergangenen Jahren haben wir noch keine Tiere an den Wolf verloren, obwohl er ganz in der Nähe war, die Massnahmen haben also bisher gewirkt», sagt Pierre Coulin.
Auch in diesem Jahr haben die Tierhalter(innen) wieder die Möglichkeit, ihre Ziegen für die Herbstschlachtung zu verkaufen. Die Metzgerei Curschellas SA in Sedrun GR ist ein Familienbetrieb, der die Schlachtung und Verarbeitung der Tiere sowie die Herstellung der Trockenwürste übernimmt. Die Vermarktung erfolgt weiterhin über Coop.
Unbeliebtes Ziegenfleisch
Das sei bisher eine gute Lösung, denn es gestalte sich schwer, Ziegenfleisch in der Schweiz zu vermarkten. «Es hat schon einen Grund, warum es wenig Ziegenfleischprodukte im Regal gibt», so Pierre Coulin, «da spielen sicher auch Vorurteile mit rein, die viele Kunden abschrecken.» Degustationen könnten aber zeigen, dass es sich um ein feines Produkt handle, dass nicht stinkt und böckelt. Das habe bei Ziegenkäse ja auch schon funktioniert. Deshalb sei für die Zukunft auch eine gemeinsame Vermarktung mit weiteren Ziegenprojekten in der Schweiz geplant, um noch mehr Ziegenfleischprodukte anzubieten. Das schaffe zusätzliche Einnahmequellen für die Landwirt(innen), erklärt der Projektleiter.
Denn nur wenn sich die Beweidung von Trockenwiesen und-weiden mit Ziegen auch wirtschaftlich rentiert, sieht Pierre Coulin eine Chance für eine Verbreitung von Wanderziegenherden in weiteren Regionen der Schweiz.