Im November 1943 ergriff die Aargauerin Lily Kohler-Burg an der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Bauernverbandes das Wort. In ihrem mit «lebhaftem Beifall» aufgenommenen Referat plädierte die Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbandes (SBLV) für den Ausbau der «wohltätigen Einrichtung» der «Land-Kindergärten» und die Errichtung von «Kinderkrippen für die ganz Kleinen» auf dem Land.
Arbeit und Lernen verzahnt
Ist es Zufall, dass die Bäuerinnen ausgerechnet in den 1940er-Jahren (mehr) Kinderkrippen auf dem Land verlangten? Wohl kaum. Die von der Aargauerin Lily Kohler-Burg erhobene Forderung ist vielmehr eine Folge der konkreten Veränderungen, die sich in diesem Zeitraum auf den Bauernbetrieben vollzogen. Wichtige Hinweise darauf, welcher Art dieser Wandel war, liefert die hier abgebildete Aufnahme, die der Berner Fotograf Eugen Tierstein im Jahr zuvor in Wohlen bei Bern gemacht hatte.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren Kinder in der Landwirtschaft von klein auf Teil der bäuerlichen Ökonomie. Ihre Betreuung durch Erwachsene (Eltern, Familienangehörige, Dienstboten) sowie ihr Lernen und Arbeiten waren eng verzahnt und im Alltag kaum voneinander zu trennen.
Wichtige Hunde und Pferde
Eine wichtige Rolle beim Hineinwachsen der Kinder in die bäuerliche Arbeits- und Lebenswelt auf den Höfen spielten deshalb auch die auf den Betrieben mitarbeitenden Tiere, insbesondere Pferde und Hunde, die in der Regel auch unter dem gleichen Dach lebten wie die Menschen.
Bis in die 1940er-Jahre nahm die Zahl der Arbeitspferde auf den Höfen stetig zu und damit auch die Möglichkeiten zur Verknüpfung von Arbeit und Betreuung, wie die Aufnahme illustriert. Das begann sich jedoch in den 1940er-Jahren zu ändern. Einerseits wurden viele Pferde während des Zweiten Weltkrieges eingezogen und anderseits traten auf den Betrieben zunehmend Traktoren an ihre Stelle.
Problem Motorisierung
Die ab den 1940er-Jahren über Zapfwellen verfügenden Traktoren erwiesen sich als wirtschaftlich effizienter als Pferde. Aber anders als die Pferde eigneten sich die Traktoren nur schlecht zur Verbindung von produktiver und reproduktiver Arbeit. In der Landwirtschaft, in der reproduktive Arbeiten wie die Kinderbetreuung oder die Erziehung der Tiere und Kinder zur Arbeit nicht einfach aus den Betrieben ausgelagert werden konnten wie in der Industrie, schuf die Motorisierung deshalb Vor- und Nachteile zugleich. Die Nachteile versuchten die ohnehin schon mit Arbeit überhäuften Bäuerinnen mit Massnahmen wie der Einrichtung von Kinderkrippen zu lösen.
Genauer hinschauen
Wie jede als insgesamt positiv wahrgenommene Veränderung hatte auch die Motorisierung vielfältige Auswirkungen: solche, die man messen kann, und solche, die von den zeitgenössischen Akteuren nur schwer zu durchschauen sind. Historische Quellen können uns deshalb nicht nur helfen, die Vergangenheit besser zu verstehen, sondern auch dazu anregen, bei aktuellen Veränderungen genauer hinzuschauen, um zu erkennen, was sie alles bewirken.
Weitere Informationen und zahlreiche historische Filme finden sich unter folgenden Links: www.agrararchiv.ch und www.ruralfilms.eu
Zur Person
Peter Moser (geboren 1954) hat nach einer KV-Lehre auf dem zweiten Bildungsweg in der Schweiz und in Irland Geschichte studiert. 1995 promovierte er mit einer Arbeit über die bäuerliche Gesellschaft im Westen Irlands an der Universität Bern. Peter Moser ist Initiant und Leiter des 2002 gegründeten Archivs für Agrargeschichte (AfA) in Bern. Er blickt hier in der neuen Artikelserie «Fundstücke aus dem Archiv» nun regelmässig zurück und präsentiert Trouvaillen aus der bäuerlichen Vergangenheit.[IMG 2]