Eine schmale Serpentine führt hinauf zum Weiler Caltgadira. Hier bedeckt noch stellenweise Schnee den Boden, während unterhalb in der Gemeinde Trun GB bereits der Frühling erwacht. Die Wallfahrtskirche Nossadunna dalla Glisch (Maria Licht) bildet das Kernstück und thront auf einem kleinen Hügelvorsprung. Einst besuchten Pilgerreisende den verwunschenen Ort und seine barocke Kirche. Heute sind es Wanderer oder Ruhesuchende, die in dem ehemaligen Pilgerhaus der Dominikanerinnen, dem heutigen «Hospezi» einkehren. Das zur Kirche angrenzende Gasthaus ist bekannt für seine einzigartige Küche: Hier werden nur Lebensmittel serviert, die nach Grundsätzen des ökologischen Landbaus produziert und weiterverarbeitet werden.

Wir suchten eine Veränderung

In dem braun vertäfelten Gasthaus mit seinen markanten gelben Fensterläden und den bunten tibetischen Gebetsfahnen lebt Ursula Weber mit ihrem Ehemann Christian. Beide, einst wohnhaft in Zürich, sagten vor mehr als 20 Jahren dem Stadtleben Lebewohl. «Wir wollten eine Veränderung», erinnert sie sich. An einer Hochzeit – in der Nossadunna dalla Glisch – machten Studienkollegen ihres Mannes auf den Verkauf des ehemaligen Pilgerhauses aufmerksam. Aus Interesse stellten Webers ein Konzept mit ökologischer Selbstversorgung auf. «Uns war klar, dass wir kein herkömmliches Hotel mit Gastronomie führen wollten. Wegen der bereits grossen Konkurrenz hätten wir mit einem herkömmlichen Restaurant auch gar nicht existieren können», ist sich Ursula Weber sicher. Der Entscheid wurde 1999 gefällt. Webers gaben ihr bisher annehmliches Leben in der Stadt auf – Ursula kündigte die Leitung eines Luxusmodegeschäfts, ihr Mann Christian gab den Juristenjob auf.

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Das Hospezi in Caltgadira sollte nun ihr neues Zuhause werden und ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das ehemalige Pilgerhaus wurde zu einem kleinen Gasthaus mit zehn Gästezimmern umgebaut. Die nötige Erfahrung bringen die Selbstversorger aus ihrem Elternhaus mit – sie als Bauerntochter aus dem Emmental, er aus einer Gastronomie-Familie.

Gemeinsam gegen das Aussterben einheimischer Arten

Seit nun mehr als 20 Jahren bewirtschaftet Ursula Weber mit ihrem Mann Christian das Hospezi in Caltgadira. «Wir engagieren uns gemeinsam mit Pro Specie Rara und dem Verein für alpine Kulturpflanzen für den Erhalt der Arten- und Sortenvielfalt einheimischer Nutztierrassen und Kulturpflanzen», berichtet Ursula, die mit ihrem Mann auch Mitglied bei der Slow-Food-Bewegung sowie dem Verein Bioforum Schweiz ist.

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«Deshalb findet man in unserem Garten nur alte, vom Aussterben bedrohte Arten», erzählt Christian Weber als er aus dem Garten kommt. In seinen Händen hält er frisch filetierte Entenbruststücke einer seiner Pommernente. «Ich konnte sie grad noch vor dem Habicht retten.» Überlebt hat sie es nicht.

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Die Entenbruststücke werden nun in Salzlake eingelegt und mit Knoblauch und getrockneten Kräuter aus dem Garten gewürzt.

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Nächstes Wochenende sollen sie Teil eines Menüs für 48 Gäste einer Geburtstagsgesellschaft sein. Dazu wird Christian einen Salat aus Brunnenkresse und Wildkräutern, was der Garten im Winter hergibt, servieren. Ab Frühjahr werden die Teller bunter. Zahlreiche verschiedene Blüten und Früchte zieren die Gerichte.

Aus Prinzip keine industriellen Produkte im Menü

Insgesamt bewirtschaftet das Paar drei Hektaren Weideland, auf denen die seltenen Bündner Strahlenziegen und die Bündner Oberländerschafe grasen.

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Im Garten und den umliegenden Flächen wachsen 150 verschiedene Pro-Specie-Rara-Kulturpflanzen. Jede einzelne von ihnen findet ihren Platz im Menü der Webers, so auch Pflanzen aus der Umgebung.

[IMG 11]Senf wächst bereits im Garten der Webers. Die Blätter schmecken nach Kohl und lassen sich in Salaten verarbeiten.

Eine Speisekarte sucht man im Hospezi vergebens. «Hier kommt nur das auf den Teller, was erntereif ist. Industriell hergestellte Lebensmittel servieren wir aus Prinzip keine», sagt Ursula Weber überzeugt. Was nicht gleich gegessen werden kann, wird eingelegt. Ausser für Fleisch werden keine Tiefkühlgeräte benötigt. Altbewährte Konservierungsmethoden wie das räuchern, trocknen, in Salz, Essig oder Öl Einlegen, zu Konfitüre oder Schnaps Verarbeiten, werden angewandt. Wintergemüse wird in sogenannten Erdmieten gelagert.

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In diesen Gruben herrschen konstante Temperaturen und Feuchtigkeit. Im Kellerraum lagern Webers in mühsamer Handarbeit ausgelesene Samen verschiedenster Pro-Specie-Rara-Sorten, die an die Pro-Specie-Rara-Samenbibliothek nach Basel geschickt werden und den Mitgliedern zur Verfügung stehen. Speck und Würste von den Schafen und Ziegen trocknen in der Scheune, der Käse affiniert im Nebenraum.

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Im Vorratskeller steht eingewecktes Gemüse, Obst und Konfitüren. Brot, Polenta und Teigwaren stellt Ursula Weber selbst her. «Wir bauen Getreide und Mais an, dreschen und mahlen es», sagt die Emmentalerin.

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Der Mutterteig für das Brot wird mit viel Aufwand zunächst täglich und danach wöchentlich gefüttert. «Wenn wir uns Ferien gönnen, müssen wir organisieren, wer um den Mutterteig Sorge trägt.»

Dem Burnout knapp entronnen

Für Ursula Weber und ihrem Mann waren Ferien in den ersten 15 Jahren kein Thema, bis sich das Paar kurz vor einem Burnout befand. Jetzt erlauben sich Webers ab und zu eine Auszeit von je einer Woche. Angestellte habe das Paar aber keine. Ab und zu helfe eine Bio-Bäuerin aus dem Dorf, wenn ein grösseres Event wieder anstehe. Interessierte oder Stammgäste helfen beim Samenseparieren.

«Die Existenz ist nicht so leicht zu bestreiten, aber das Internet macht es mittlerweile einfacher», so die Selbstversorgerin. Neben dem Gasthaus-Betrieb bietet Ursula Weber Seminare an, z. B. zur Herstellung von Brot und Sauerkraut.

Einzigartig in der Schweiz

Bisher sind Webers mit ihrem Konzept einzigartig in der Schweiz. 2014 wurden sie mit dem Kulturanerkennungspreis des Kantons Graubünden für die langjährige Tätigkeit im Bereich des ökologischen Landbaus und der nachhaltigen Ressourcenbewirtschaftung sowie des Einsatzes für die Erhaltung der Sortenvielfalt in Graubünden ausgezeichnet. Seitdem klopft auch öfters das Fernsehen oder die übrige Presse an. Zusammen mit Pro Specie Rara haben Webers ein Kochbuch geschrieben, mit den Gerichten, die sie ihren Gästen über das gesamte Jahr servieren. Wer die Küche einmal geniessen möchte, kann telefonisch bei Webers reservieren oder einfach nur auf Kaffee und Kuchen und für einen Plausch vorbeikommen.

 

 

Ursulas Tipp

Ich empfehle, mehr Bitterstoffe in den Speiseplan einzubauen, denn diese werden häufig vernachlässigt. Sie sind unter anderem gut für die Verdauung und haben einen blutreinigenden Effekt. Bitterstoffe findet man in Chicorée, aber auch in Löwenzahn im Garten. Wenn man Bitterstoffe nicht so gerne hat, kann man sie kochen, dünsten und mit Honig verfeinern.