Wängi Schlüssel aus dem Zündschloss, Autotüre auf. Ruth Marti läuft zackig ums Auto herum. Schiebetüre auf, Isolierbox auf, Griff hinein. Ein Kontrollblick auf das Etikett. "Es kam auch schon vor, dass ich nicht ganz bei der Sache war und Lieferungen vertauschte", erklärt sie. Marti spricht so schnell, wie sie unterwegs ist. Ein gewisser Zeitdruck ist spürbar. Schiebetüre zu, im schnellen Schritt die Ware deponieren und noch schnell die Temperatur im Depot kontrollieren. Zurück zum Auto und weiter geht es zum nächsten Posten auf der Lieferliste. Heute, an einem Dienstag, muss die Bäuerin 15 Adressen anfahren. 135 Kilometer werden es am Ende sein. Das ist eine kurze Tour.

"Am Anfang ging ich zwei, dreimal mit jemandem auf die Tour mit. Die Fahrstrecke und Lieferposten, die vom Bodensee bis ins Schaffhauserland und Züribiet verteilt sind, zeichnete ich mir auf meiner alten Schulkarte des Kantons Thurgau ein," erzählt die 66-Jährige mit einem Lachen im Gesicht. Ruth Marti ist pro Monat drei Wochen an drei Tagen für die Suisag unterwegs und liefert Ebersperma aus. Mittwochs und donnerstags hütet sie ihre sechs Enkelkinder, jeweils drei aufs Mal.

Kennt jeden Radarkasten

Unterdessen ist sie seit fast 14 Jahren dabei und kennt jeden Radarkasten auf der Strecke, jede gefährliche Einfahrt von einer Neben- auf die Hauptstrasse sowie Tricks und Kniffs, wie sie Lieferadressen besser anfährt oder weniger wenden muss.

Je länger die Fahrt dauert und je weniger Posten es sind, desto entspannter wird Ruth Marti. Normalerweise sei sie alleine unterwegs. «Mein Vater kam einmal mit, aber er meinte: "Du hast ja nicht einmal Zeit, einzukehren, da komm ich kein zweites Mal mit." Die Bauern, die das Sperma bestellen, sieht sie nur in den seltensten Fällen. "Man muss gerne Autofahren. Meine Kinder haben mir aber zurückgemeldet, dass ich viel besser fahre, seit ich diese Routine durch die Arbeit habe." Sie selber denkt von sich, dass sie frecher fahre und eher mal noch in einen Kreisel einbiege als ihre Kolleginnen im gleichen Alter.

Ruth Martis Leben kann man in ein Vor- und Nachher einteilen. Vor der Krebserkrankung von Werner, ihrem Mann, führte sie mit ihm einen Bauernhof mit Original Braunvieh und Ackerbau. «Die Tage waren bestimmt vom Melken am Morgen und dem Melken am Abend.» Am meisten mochte sie das Traktor fahren – «Wir hatten mehrere Fords, vom Oldtimer bis zum grossen, sehr modernen.» – und das Kälbertränken. Weniger ihr Ding waren das Äpfelauflesen und der Garten. «Gegärtnert habe ich, weil man das so machte. Zum Glück gibt es pflegeleichte Kulturen wie Kartoffeln, Bohnen, Zwiebeln oder Salat», erzählt sie schmunzelnd.

Verändertes Leben

Ruth und Werner Marti lernten sich im Frohsinn Anetswil TG kennen. Nach vier Jahren im Bündnerland als Lebensmittelverkäuferin kam sie zurück in die Heimat und jobbte im Service. «Werner sagte gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft: ‹Du bist keine Serviertochter, du bist eine Bauersfrau.›»

Der Krebs hat das Leben von Martis sehr verändert. Wenn Werner zur Kur musste und jemand angestellt werden musste, kostete das

mehr, als die Versicherung bezahlte. Folglich gaben sie die Landwirtschaft auf und Ruth Marti suchte sich eine Arbeit. «Ich wollte zuerst den Kurs beim Schweizerischen Roten Kreuz absolvieren und in die Pflege einsteigen. Das klappte nicht. Da hat mir jemand von der Arbeit bei der Suisag erzählt.» Sie ging sich vorstellen. Heute müsse man sich per Brief und Lebenslauf bewerben, das sei damals noch etwas anders gewesen. Vor zwölf Jahren starb Werner. Zwei Jahre Krankheit und seine Begleitung in den Tod belasteten Ruth Marti sehr.

Ihre vier Kinder unterstützten sie. Die Familie hat einen tollen Zusammenhalt. Ganz stolz zeigt sie auf dem Handydisplay ein Bild: Sie, umringt von ihren Kindern mit Partnern und Enkelkindern. Ruth Marti ist eine positive und gesellige Person geblieben. Alleine Dinge unternehmen oder essen mag sie jedoch nicht. "Frühstücken ist bei mir fünf Minuten lang einen Kaffee trinken und schnell ein Brötchen dazu essen." Früher hat sie sich über Leute aufgeregt, die bei Tisch Zeitschriften lesen. "Heute bin ich auch so eine", gibt sie zu.

"Frühstücken ist fünf Minuten Kaffee trinken."

Ruth Marti, Bäuerin und Spermalieferantin

Thai-Essen ist zu scharf

Einmal in der Woche geht Ruth Marti ins Turnen. "Wir dehnen und stecken uns, tun etwas fürs Gleichgewicht. Turnen für ältere Leute halt." Seit eh und je geht sie wöchentlich mit einer Clique ins Hallenbad Sirnach TG. Und einmal im Jahr lädt der Thurgauer Landfrauenverband zu einem Witfrauen-Treffen ein. Das besucht sie, wann immer sie es sich einrichten kann. "Ich bin nach Werners Tod nicht sofort hingegangen, sondern erst nach ein paar Jahren."

Für die Ferien findet Ruth Marti meistens Begleitung. Diesen Januar war sie mit Schwägerin und Schwager in Neuseeland. Der Göttibub ist auf der Zimmermanns-Walz dort "hängen" geblieben. Wegen ihm war Ruth Marti auch einmal in Thailand. "Er hat in der Mitte zwischen Neuseeland und Europa geheiratet." Das Essen war ihr dort etwas zu scharf. Lieber mag sie einheimische Kost.

Bis Ende September will Ruth Marti noch für die Suisag unterwegs sein. "Bis vor dem Winter." Sie hofft, dass sie danach endlich etwas mehr Zeit für sich hat. Sagt sie und düst davon in den Feierabend.