Etwa 400 Höhenmeter und 45 Minuten Fussmarsch liegen zwischen dem Talalpsee im Glarus und der Alp Tros von Lisbeth Luchsinger. Die Hausfrau und Mutter von zwei erwachsenen Pflegekindern verbringt hier seit acht Jahren ihre Sommer mit den drei Border Collies Briana, Samira und Devon. Weitere 500 Höhenmeter entfernt, grasen auf 1900 m ü. M. die 218 Schafe der Rassen Weisses Alpenschaf, Charollais Suisse, Engadinerschaf und Kreuzungsschafe. Sie werden zusammen mit den zwei Lamas Luigi und Kishu gehalten.
Die beiden Neuweltkameliden haben die Aufgabe, die Herde vor Wolfsangriffen zu schützen. Denn in der Vergangenheit fielen in dieser Region einige Schafe dem Wolf zum Opfer. «Hier oben lebt ein Rudel, welches im vergangenen Jahr nachweislich drei Schafe riss. Von 20 Schafen fehlt nach wie vor jede Spur», berichtet Luchsinger, die offiziell auch die Herdenschutzbeauftragte des Kanton Glarus ist.
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Der Hund trieb sie zum Schaf
Lisbeth Luchsinger ist keine ausgebildete Landwirtin. «Ich habe mir die falschen Hunde angeschafft», antwortet sie lachend auf die Frage, was sie zur Schafzucht trieb. Border Collies sind sehr arbeitswillige Tiere und wurden in ihrem Ursprungsland Grossbritannien von Beginn an für das Hüten von Schafen eingesetzt. «Ich sagte zu meinem Mann: ‹Nun haben wir die Hunde, jetzt brauchen wir noch die Schafe›.»
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2013 machte Luchsinger eine Ausbildung zur Schafhirtin. Gleich darauf wurden die ersten Schafe angeschafft. Sie pachtete Land in der Nähe von ihrem Wohnhaus in Obstalden GL und übernahm jeweils für 3,5 Monate die Alp Tros und das dazugehörige 27 Hektaren grosse Weideland. Neben ihren eigenen 37 Schafen und 17 Geissen, hütet sie weitere von Nachbarbetrieben. Drei Alpakas ziehen seit 2013 mit der Herde auf die Alp. «Sie nur mit den Hunden vor dem Wolf zu schützen, würde nicht funktionieren, da das Areal viel zu gross ist», begründet sie. Ausserdem gäbe es mit Herdenschutzhunden vor allem in touristisch intensiv genutzten Gebieten immer wieder Probleme mit Wanderern.
Ein Schlüsselmoment änderte alles
2016 kam die Schafhirtin das erste Mal mit dem Wolf in Kontakt. «Durch die Alpakas hatten wir bisher immer Ruhe vor ihm. Doch vor fünf Jahren riss er ein Schaf. Ein halbes Lamm hat er gefressen. Das war kein schöner Anblick, als wir die Überreste fanden», beschreibt sie den Tag, der für Lisbeth Luchsinger zum Schlüsselmoment wurde.
Weiden wurden komplett eingezäunt
Nach dem Wolfsangriff investierte die Schafhirtin im darauffolgenden Sommer weder Mühe noch Kosten, um ihre Tiere zu schützen. Sie zäunte vollständig die 27 Hektaren ein und unterteilte diese nochmals in acht Weiden, die Luchsinger unter Strom setzte. Zusätzlich schaffte sie sich zwei Lamas an.
In den USA und Australien macht man seit vielen Jahren gute Erfahrungen mit Lamas als Herdenschutztiere gegen Kojoten, Dingos und streunende Hunde. In der Schweiz wurden nur vereinzelt Erfahrungen mit den bis zu 150 kg schweren Neuweltkameliden gemacht, weshalb die Agridea in einem Pilotprojekt von 2012 bis 2016 ihre Eignung gegen den Wolf untersuchte.
«Es konnte nicht ausreichend nachgewiesen werden, ob die Lamas wirklich eine Schutzwirkung haben», weiss Lisbeth Luchsinger. «Deshalb werden die Lamas als Herdenschutz vom Bund auch nicht anerkannt und somit nicht finanziell unterstützt.» Dennoch war die Schafhirtin von der Idee fasziniert. Sie erwarb den Sachkundenachweis für Neuweltkameliden und investierte in die südamerikanischen Tiere.
Lamas haben eine abschreckende Wirkung
Bevor die beiden Lamas das erste Mal auf die Alp mitgingen, mussten sie zunächst an die Schafe gewöhnt werden. «Wir halten sie zu Hause zusammen mit den Schafen im Stall, damit sie sich an die Tiere gewöhnen können und als ihre Herde annehmen. Wenn das gut funktioniert, werden sie auch auf der Alp ein Auge auf die Schafe haben», erklärt Lisbeth Luchsinger.
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Ihre Schutzwirkung beruht nämlich auf einer natürlichen Abneigung gegenüber fremden Eindringlingen, insbesondere gegenüber Hundeartigen. Wenn sie zu den Schafen eine soziale Bindung aufgebaut haben, verteidigen sie diese gegenüber den Angreifern mit Ausschlagen, Schreien, Spucken und Wegdrücken. Zudem patrouillieren sie in der Herde, halten auf erhöhten Punkten Ausschau und wirken durch ihre Grösse und weil sie keine Fluchttiere sind, abschreckend auf Wölfe oder andere Raubtiere.
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Wissenswertes über Lamas
Die Neuweltkameliden Lama und Alpaka sind vor allem in den südamerikanischen Anden verbreitet. Alpakas werden in der Schweiz grundsätzlich nicht als Herdenschutz empfohlen, da ihre Körpergrösse (Schulterhöhe 80 bis 100 cm, Gewicht bis 80 kg) und der Charakter selten ausreichen, um ein Raubtier genügend abzuschrecken. Das Lama wirkt mit einer Schulterhöhe von 110 bis 130 cm und einem Gewicht von 120 bis 150 kg deutlich abschreckender.
Schutz vor Hundeartigen
Aufgrund seiner natürlichen Abneigung gegenüber Hundeartigen und Kleinraubtieren wurde das Lama in den USA erstmals in den frühen 1980er-Jahren als Herdenschutztier eingesetzt. Heute kommen sie vor allem in den USA und in Australien zum Schutz der Schafherden vor Kojoten, Dingos und streunenden Hunden zur Verwendung. Durch Ausschlagen, Schreien, Spucken und Wegdrücken können sie verschiedene Tierarten verteidigen, zu denen sie eine Bindung aufgebaut haben.
In Zweiergruppen halten
Um Lamas halten zu können, ist eine landwirtschaftliche Ausbildung oder ein Sachkundenachweis für die Haltung von Lamas notwendig. Lamas müssen zu zweit gehalten werden. Beim Einsatz von mehr als zwei Tieren besteht das Risiko, dass sich eine separate Lamagruppe bildet, was zu einem Verlust der Schutzfunktion führen kann. Idealerweise sollten zwei kastrierte Lamahengste in eine Herde von 100 bis 150 Tieren integriert werden. Vom Einsatz von Jungtieren mit ihrer Mutter wird abgeraten.
Quelle und Merkblatt «Einsatz von Lamas für den Herdenschutz» der Agridea: hier.
Ein steiler Aufstieg trennt die Alphütte von der Herde
«Seit ein paar Tagen grast die Schafherde auf der Weide mit dem schönsten Ausblick. Manchmal sieht man sogar bis zum Zürichsee», sagt Lisbeth Luchsinger, ihren Rücksack auf den Rücken geschnallt und bereit für den steilen Aufstieg. «Ich gehe diesen Weg jeden Tag.» Ihre beiden Border Collies folgen ihr auf Schritt und Tritt, immer abrufbereit – denn für das Schafetreiben wurden sie ausgebildet. Den 13-jährigen Devon hat Luchsinger in der Hütte gelassen. «Er schafft diese Tour nicht mehr.»
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Nach etwa 75 min erreichen wir den höchsten Punkt der Weide. Der imposante Mürtschenstock auf der rechten Seite. Von Weitem blicken uns zwei Köpfe entgegen, die eindeutig nicht Schafen zuzuordnen sind. Um ihren langen Hals tragen sie den Alptracker – «damit kann ich aus der Ferne das Verhalten der Lamas nachvollziehen und erkennen, ob vielleicht eine Gefahr droht», erklärt die Schafhirtin. Das braun-weissgescheckte Lama schaut kurz neugierig auf und fixiert dann aber wieder den Abgrund. «Es hat dort unten wahrscheinlich irgendetwas gesichtet», sagt Luchsinger. Ob es ein Wolf war, weiss man nicht.
Nur ein Massnahmenpaket schützt die Herde
Nach einer kurzen Lunchpause füllt die Hirtin das Wasserbecken für die Tiere auf und kontrolliert einen ihrer vielen Elektronetze, die sie zusammen mit drei Helfern im Frühsommer rund um die acht Weiden gezogen hat. «Ich möchte nicht riskieren, dass durch einen defekten Zaun meine Schafherde nicht mehr geschützt ist», sagt sie. Denn alleine mit Lamas erreiche man keinen 100-prozentigen Schutz. «Man braucht das gesamte Paket aus Hunden, Zäunen, Strom, Lamas und dem Hirten, um den grösstmöglichen Schutz vor dem Wolf zu garantieren», sagt die Schafhirtin bestimmt.
Keine Wolfsangriffe mehr seit 2016
Mit dem Wolf hatte Lisbeth Luchsinger seitdem keine Probleme mehr. «Es ist aber immer eine Glückssache die Schafe heil durch den Sommer zu bringen. Wenn mein Konzept doch nicht funktioniert, dann werde ich wohl oder übel vor dem Wolf kapitulieren müssen», bedauert sie. Noch läuft die Pacht für die Alphütte und das Weideland weitere vier Sommer. Danach wird die 53-Jährige den Druck und Aufwand einer Schafhirtin jemand Jüngerem überlassen müssen.
Am 15. September 2021 bietet die Agridea einen Erfahrungsaustausch zu Lamas im Herdenschutz an. Einen Überblick finden Sie hier.