Den Schlegel in der rechten Hand, einige neue Holzpfosten im Räf, in der linken Hand den Draht ziehend, der über den Winter am Boden lag. So gehe ich Schritt für Schritt in die Höhe. Die Sonne wärmt meinen Rücken, der frische Wind pfeift in den Ohren. Ich erreiche den nächsten Holzpfosten und bewege ihn hin und her: Hält er noch? Ist er noch hoch genug? Ich hänge den Draht in den Isolator und gehe weiter. Nach ein paar Metern der nächste Holzpfosten. Dieser wurde vom letzten Schnee zu Boden gedrückt. Ich ersetze ihn, drehe den Isolator ein, ziehe den Draht nach, hänge ihn ein und gehe weiter. Zum nächsten Pfosten.

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Karg, eintönig, mager

Den Blick von meiner Arbeit hebend, schaue ich mich um, sehe die Bergkette, wo noch Schnee im Gestein liegt. Eine Weite erstreckt sich vor mir, farblich eintönig: Wacholder und Heidekraut, dürres Borstgras aus dem letzten Jahr zwischen den Heidelbeeren, hin und wieder blitzen die rosaroten Blüten von Alpenrosen auf. So stelle ich mir eine Steppe oder die Tundra vor: karg, eintönig, mager. Was werden die Tiere hier fressen? Werden sie zwischen dem Gestrüpp Gras finden? Werden sie davon satt?

Der kalte Wind pfeift weiterhin in den Ohren und ich gehe weiter, prüfe den nächsten Zaunpfosten. Sehe die Kiesstrasse unter mir, dort, wo ich begonnen habe, zu zäunen. Sie erscheint so nah, obwohl ich schon eine Weile am Arbeiten bin. Der Hang, an dem der Zaun ansteigt, ist steil, das Gelände wegen den Sträuchern anstrengend zum Laufen – ich brauche meine Zeit zum Zäunen. Das geniesse ich in meinem Alpalltag: Die Zeit für die Arbeit kann ich mir selbst einteilen, ich bin meine eigene Chefin. Das Arbeitstempo und die Art und Weise, wie ich zäune, bestimme ich selber.

Ich schlage den nächsten Pfosten ein, ziehe den Draht nach, steige durch die Stauden hoch. Weit über mir sehe ich den Grat, er erscheint so nah und doch fern. Vor mir liegt noch einiges an Arbeit. Am Grat sehe ich Zaunpfosten nebeneinander. Das mag wohl der Grenzzaun zur Nachbarsalp sein. Wer dort wohl z Alp ist? Bald erreiche ich einen glucksenden Bergbach. Hier haben die Kühe Zugang zu Wasser. Dieser Gedanke beruhigt mich.

Weitersteigend prüfe ich die nächsten Pfosten, verkeile den einen oder anderen mit einem gebrochenen Holz oder auch einmal mit einem Stein – die Pfosten im Räf wurden schon weiter unten verbaut. Je höher ich steige, desto schlechter ist der Zaun. Dem Vorälpler erging es wohl genauso.

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Überall hat es Augen

In meinem Rücken, auf der anderen Talseite, liegt die Kuhalp mit ihren grünen Weiden. Die Milchkühe stehen schon vor dem Stall. Sie wollen bei dieser Hitze hinein, dort, wo die Fliegen weniger stören. Beobachtet mich wohl jemand von dort drüben, wie ich hier vor mich hin werke?

Es ist illusorisch, zu meinen, auf der Alp sei man alleine und unbeobachtet, weder im Nebel, noch im tiefen Wald. Überall hat es Augen. Ein Jäger, der das Wild beobachtet, ein Wanderer, der Wildhüter, eine andere Älplerin oder vielleicht auch ein Tier, das in der Nähe grast. Vielleicht sitzt ein Wolf weiter oben in den Heidelbeeren und beobachtet mich. Ein Wolf, der Wolf, das politischste Tier, das jemals existierte. Alle Welt redet über ihn, weiss über ihn Bescheid. Werde ich ihn je einmal zu Gesicht bekommen, hier oder sonst wo? Ich gehe weiter und schlage den nächsten Pfosten mit einigen Hieben fest.

*Die Autorin möchte nur mit Vornamen genannt werden.

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Alperlebnisse 2023
Im Älplerblog berichten Älplerinnen und Älpler aus den Kantonen Graubünden und St. Gallen in loser Folge von ihren Erlebnissen während des Alpsommers.