Baum an Baum, bis ich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehe. Blaubeeren, soweit das Auge reicht und der Bauch vollgestopft ist. Meeresrauschen, wie man es vom Mittelmeer kennt. Moorlandschaften mit begehbaren Wegen. Die Hoffnung, einem Elch zu begegnen. Gurken und Tomaten, bis mir die Ohren wackeln.
Berge? Was ist das denn? In der 90°C heissen Sauna ins Schwitzen kommen, bis der Bauchnabel brennt und sich nach 20 Minuten saunieren in der braunen Brühe im Bach nebenan abkühlen lassen. Das alles ist Estland pur.
Erst seit einigen Jahren ein Unterstand
Meine zweite Gastfamilie bewirtschaftete in Karinomme Küla etwa 120 Hektaren Land. Diese Ortschaft liegt in der Nähe der Stadt Pärnu. Insgesamt hatte die Familie 35 Tiere, davon zirka 15 Mutterkühe und 20 Zuchtbullen der Rasse Charolais. Die Farm war für estnische Verhältnisse ziemlich klein. Da ich erst Anfang August dorthin kam, war die Heuernte schon vorbei.
Mir ist aber geblieben, dass sie dort erst seit zwei oder drei Jahren einen Unterstand für ihr geerntetes Heu haben. Vorher hatten sie die Heuballen einfach irgendwo im Nirgendwo auf einem Haufen gelagert, ohne ein Dach oder eine Blache, frei Wind und Wetter überlassen. Sie hatten verhältnismässig wenige Tiere für so viel Land. Zudem war alles flach, so dass sie alles maschinell machen konnten – ganz anders als bei uns zuhause. Sie konnten also sehr kostengünstig produzieren und deshalb war es für sie rentabler, mehr Heu zu produzieren, als sie wirklich als Futter benötigen, anstatt einen Unterstand zu bauen.
Heu als Strohersatz
Man bedenke, dass in Estland im Herbst und Winter ziemlich eisige Temperaturen herrschen und ziemlich viel Schnee fallen kann. Die äusseren Schichten der Heuballen waren dementsprechend grau. Deswegen verwendete die Familie das Heu halt immer als Strohersatz. Als ich dies von meinem Gastvater hörte, schaute ich ihn mit erstauntem Blick an und erklärte ihm, wie das in der hügeligen Schweiz so läuft.
Gerade mitten in der Ernte
Der höchste Berg Estlands liegt sage und schreibe 318 Meter über Meer. Er liegt im Südosten des Landes. Innert zehn Minuten standen wir also auf dem höchsten Berg von Estland. Dies war ein gemütlicher Abendspaziergang für mich. Meine dritte Gastfamilie – die es schlichtweg nicht gewohnt war, steile Hänge hoch zu laufen, da es in Estland nun einmal flach ist – kam ziemlich ins Schwitzen.
Sie war in Takkasaare Talu im Herzen Estlands zuhause und bewirtschaftete zirka 600 Hektaren Land, wobei sie Gras, Erbsen, Roggen, Gerste und Weizen anbaute. Da ich Mitte August bei ihnen ankam, waren sie gerade voll im Einsatz. Der Gastvater war mit seinen beiden Söhnen daran, das Getreide zu ernten. Meistens hat der Senior den Claas-Drescher gefahren, wobei die zwei Söhne mit dem Transport beschäftigt waren. Dafür hatten sie sogar ihre eigenen Lastwagen.
Wodka als Währung
In Estland gilt auch, dass die Stallarbeit den Frauen gehört. Es kommt in Estland sehr selten vor, dass Männer Kühe melken, geschweige denn nur einen Schritt in den Stall wagen. Folglich war es in der Verantwortung der Gastmutter, dass es den Kühen gut ging und diese versorgt wurden. Sie hatte zirka 90 Kühe, wobei oft eine Nachbarin zum Melken vorbeikam, so dass die Gastmutter auch zwischendurch mal frei hatte.
Bei dieser Familie ist mir besonders in Erinnerung geblieben, dass einer der Söhne mir mal beim Lastwagen fahren erzählte, ihrem Vater sei früher von den Russen alles genommen worden. Estland gibt es erst seit 1991 wieder vollständig, es ist also so alt wie ich es bin. Damals konnten Waren nicht mit Geld bezahlt werden. Dies aus dem einfachen Grund, dass es wohl eine Währung gab, aber keiner diese besass. Reich war auch derjenige, der Wodka besass. So kam es, dass der Gastvater mit nur einem halben Liter Wodka viele Liter Diesel kaufen konnte. So konnten sie sich schrittweise wieder eine rentable Farm aufbauen.
Ich konnte während meinem Aufenthalt in Estland sehr vieles erleben und Menschen und ihre Geschichten kennenlernen.
Zur Autorin
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Regula Hofer (29) ist im Emmental auf einem Bauernhof aufgewachsen und hat eine Lehre als Detailhandelsfachfrau in einer Confiserie abgeschlossen. Ihr erster IFYE-Austausch führte sie im Jahr 2015 nach Norwegen. Seither hat sie bereits mehrere Auslandaufenthalte hinter sich, unter anderem in Slowenien. Zuletzt war sie bei drei Familien in Estland zu Gast. Mittlerweile ist Regula Hofer bei der IFYE Länderkoordinatorin für Skandinavien und ermutigt junge Menschen dazu, einen unvergesslichen Sommer im Ausland zu erleben.