Dossier Bäuerinnen und Bauern produzieren in Afrika Lebensmittel, sind aber paradoxerweise besonders von Nahrungsmangel betroffen. (Bild pd) Auswanderer Monday, 4. January 2021 Von einer starken Währung und tiefen Zinsen wie in der Schweiz kann man in Argentinien nur träumen. Die Inflation ist seit 2021 von 40 % auf aktuell 104 % angestiegen – eine der höchsten weltweit.

Die Preise ändern sich andauernd

Der argentinische Peso hat seinen Wert in dieser Zeit mehr als halbiert. Die Waren in den Supermärkten haben meist keine Preisetiketten, weil die Preise wöchentlich mehrmals ändern. Auch bei Konsumgütern wie Elektrogeräten, Möbeln, Kleidern und Schuhen muss jeder Preis nachgefragt werden. So werden Preisvergleiche mühselig und unüberblickbar.

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Entscheidet man sich nicht sofort für den Kauf und wartet, hat sich der Preis schon wieder nach oben verändert. Die grösste Banknote, ein 1000-Peso-Schein, hat gerade mal den Wert von einem Zweifränkler. Seit ich in Argentinien wohne, brauche ich kein Portemonnaie mehr – der Rucksack hat diese Aufgabe übernommen.

Die Zeiten ändern sich – und noch einiges mehr

Und dennoch wirken die Argentinier gefasst und ohne Panik. Sie haben sich daran gewöhnt – obwohl es nicht immer so war. Um das Jahr 2000 herum lag die Inflation wie heute in der Schweiz im tiefen einstelligen Bereich. Und vor noch viel längerer Zeit war Argentinien einmal das zweitreichste Land auf der Welt. «Reich wie ein Argentinier» war in Europa ein gängiger Spruch nach 1900.

Die Zeiten ändern sich und heute ist Argentinien am anderen Ende der Fahnenstange angesiedelt, was die wirtschaftliche Verfassung anbelangt. Klar, äussert man sich bei Gesprächen mit Unmut über diesen Zustand, aber ich staune immer wieder, wie die Argentinier es schaffen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Auf jeden Fall haben die hohe Inflation und die schwache Währung dazu beigetragen, dass der durchschnittliche Argentinier sehr flexibel und einfallsreich geworden ist.

Viele verschiedene «Dollars»

Jene, welche am Ende des Monats noch etwas übrig haben, kaufen sich US-Dollars, um zu sparen, aber das ist eine Geschichte für sich, denn es gibt in Argentinien eine zweistellige Zahl verschiedener «Dollars»: den offiziellen, den die Bank festlegt und der ungefähr die Hälfte des Dollar Blue beträgt, welcher zwar eigentlich ein Devisen-Schwarzmarktkurs ist, aber hochoffiziell auf jeder Zeitung abgebildet wird. Dann gibt es den Soja-Dollar, den Katar-Dollar, den Agrar-Dollar, den Touristen-Dollar, den Dollar MEP, den Dollar Mayorista und viele mehr. Hier darauf einzugehen, würde den Rahmen sprengen, aber man bekommt einen Einblick, wie komplex alles ist, was mit Finanzen zu tun hat.

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Landwirte investieren in alles Mögliche

Die Kreativität im Umgang mit der hohen Inflation fängt hier erst an. Ich habe zum Beispiel begonnen, in Autopneus zu investieren. Das heisst, ich kaufe für meine Fahrzeuge die Pneus, die ich in vielleicht einem oder zwei Jahren benötige, bereits heute, weil sie morgen schon teurer oder nicht mehr verfügbar sind. Als Landwirt kann man in Draht investieren, in Diesel, wenn man einen Tank besitzt, in Saatgut und Agrarmaschinen. Die Ernte wird häufig in riesigen Siloschläuchen auf dem Feld deponiert und immer nur in Teilmengen verkauft, um dem Wertverfall des Pesos zu trotzen.

Wer Geld hat, kauft Wohnungen

Ja, selbst in Gebrauchtwagen lohnt es sich zu investieren. Ich habe es in der Schweiz nie erlebt, dass ein Gebrauchtwagen mit über 150 000 km unter der Haube nach zwei Jahren um 40 % im Wert gestiegen ist. Jene, die mehr Kapital haben, kaufen sich Wohnungen in den Städten, welche sie an Studenten vermieten, oder Cabañas in den Touristenorten, um damit Mieteinnahmen zu erhalten. Agrarland ist natürlich auch gefragt, auch wenn es nur einen Bruchteil der Investition verlangt, die man in der Schweiz tätigen muss. Hier gilt man einen Landkaufpreis in der Regel in 8 bis 10 Jahren mit dem Ertrag ab.

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Trend zu steigender Inflation auch in Europa

Warum erzähle ich das? Ich war ja nicht immer Landwirt, sondern Finanzanalyst. Mit 40 Jahren liess ich mich umschulen und kaufte dann bekannterweise den Aspenhof in Wilchingen. Mein Interesse für die wirtschaftliche Entwicklung habe ich beibehalten. Ich erkenne einen Trend zu steigender Inflation in Europa, was in kleinerem Ausmass auch die Schweiz betrifft. Man mag das noch nicht als Bedrohung sehen, aber wie anhand des Beispiels Argentinien gezeigt, ändern sich die Zeiten ständig. Alles verläuft in Zyklen und Inflation kann das Vermögen gefährden. Vielleicht beginnt man schon mal, von den Meistern der Inflation zu lernen.

Zur Person: Mit 40 Jahren wechselte Egon Tschol von seinem Beruf als Finanzanalyst in die Landwirtschaft und übernahm 2009 einen Betrieb von elf Hektaren im schaffhausischen Klettgau. Er stellte auf Demeter und Mischfruchtanbau um. Mit Ehefrau Bea und denzwei Töchtern Fiona und Zoé sowie sechs Pferden wanderte er 2020 nach Argentinien aus, um die erlernte regenerative Landwirtschaft auf einer 15-mal grösseren Fläche uneingeschränkt anzuwenden.