«Swiss Mafia, ich organisiere Dein Flugbillet, brauche Dich hier draussen. Wann kannst Du beginnen?» Mit dieser Nachricht erreichte mich meine Tante via Facebook-Messenger, bevor ich da landete, wo ich jetzt arbeite.
Zusammen mit ihrem Mann besitzt sie mittlerweile drei Rinderfarmen in der Halbwüste Australiens. Gesamthaft umfassen die drei Grundstücke eine Fläche von rund 345'000 Hektaren. Insgesamt acht Personen arbeiten für ihr Unternehmen. Dabei ist dieser Betriebszweig nur das kleinere Standbein ihrer zweiten Haupttätigkeit, dem Strassenbau in abgelegenen Regionen, wo sie etwa 60 Personen beschäftigen.
Anweisungen aus der Luft
Die erste Rinderfarm ist 300 Kilometer von der Stadt Broken Hill entfernt und liegt im Nordwesten des Staats New South Wales. Hier wohnt meine Tante mit ihrem Mann. 800 Kilometer und eine Staatsgrenze weiter nördlich betritt man ihre zweite Rinderfarm im Südwesten des Staats Queensland, welche meine Cousine mit ihrem Freund managt.
Nur ein australischer Katzensprung davon entfernt (150 Kilometer) liegt dann die dritte Rinderfarm, die mein Cousin mit seiner Frau führt. Wie viele Rinder sich momentan auf ihrer Fläche befinden, bleibt ein Geschäftsgeheimnis. Es wird eine fünfstellige Zahl sein.
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Mafia nenne ich ihr Unternehmen. Nicht, weil es Leute verschwinden lässt und mit Drogen handelt. Mafia, weil man das Haus nie ohne Waffe, Munition, Wasser, Kraftstoff und Werkzeug verlassen darf. Mafia, weil man sich manchmal kneifen muss, um zu glauben, dass man sich nicht in einen wilden Action-Film verirrt hat.
Beispielsweise, wenn mein Onkel (oder mein Cousin, der sich auch zum Piloten ausgebildet hat) mit dem Helikopter über die Besatzung am Boden fliegt und über das Funkgerät relativ direkte Anweisungen gibt, in welche Himmelsrichtung wir mit den Motorrädern und Quads «schiessen» müssen, um die Rinder einzutreiben, die er gesichtet hat.
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«Mustering» wird diese Aufgabe genannt. Das passiert immer, wenn die Preise gut sind, es für die nächsten Wochen zu wenig Futter in den Paddocks (Koppeln) hat oder die Rinder ihr optimales Gewicht erreicht haben. Je nach Witterung, Futterverfügbarkeit und Marktsituation treiben sie die Rinder aus den jeweiligen Paddocks einige Male pro Jahr und Grundstück in die Nähe der Viehhöfe, wo sie nach Grösse, Gewicht und Geschlecht sortiert werden.
Wie im Rodeo
Diese Aufgabe wird «Drafting» genannt. Sie folgt auf das «Mustering». Auch dafür darf man kein fragiles Herz haben. Wenn die Kolosse, die noch nie einen Menschen gesehen haben, in die Bucht getrieben und aussortiert werden, fühlt man sich wie im Rodeo. Höchste Konzentration ist gefragt. Greift er an? Ist er harmlos? Hat er oder habe ich Angst?
Wenn dann sogar mein normalerweise unbekümmerter Onkel plötzlich panisch wird, weiss man, dass man es mit einer echten Bedrohung zu tun hat. «If he charges you, he’ll kill you!», schrie er mir einmal zu. Ziemlich unmissverständlich, aber hier trotzdem die Übersetzung: «Wenn er dich angreift, wird er dich töten.»
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Innert Sekunden muss man aus der Bucht über die Gatter fliehen können, um dem Bullen seinen Platz zu lassen. Aber auch die Gatter aus Stahl garantieren keine vollständige Sicherheit. Letzte Woche sprang ein zehnjähriger Bulle fünfmal darüber, ohne die oberste Sprosse überhaupt berührt zu haben. Wir schluckten alle leer – sogar meine Cousine und meine Cousins, die quasi mit dieser Arbeit aufgewachsen sind.
Das sind lange, staubige und heisse Tage, wenn das Thermometer teils über die 40-Grad-Grenze klettert – das kalte Bier aus dem Kühlschrank auf der Ladefläche des Pick-ups lässt einen die adrenalingeladenen Rodeo-Runden und den Dreck im Gesicht mit jedem Schluck etwas einfacher vergessen.
Regen bedeutet Umwege
Nach dem Aussortieren und dem Anbringen von Ohrmarken und Brandzeichen (die je nach Staat in Australien immer noch erforderlich sind) werden die für den Verkauf bestimmten Tiere schlussendlich auf die sogenannten «Road Trains» (Lastwagenkombinationen) verladen. Trucks, die übrigens Treibstofftanks von 2000 Litern mit sich tragen, transportieren die Nutztiere über viele Hundert Kilometer auf grösstenteils ungeteerten Strassen zu den Verkaufshöfen.
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Weil kürzlich viel Regen gefallen ist, müssen die «Road Trains» teilweise zusätzliche Kilometer auf sich nehmen, um nicht im Schlamm steckenzubleiben. Kein besonders zufriedenstellender Gedanke – aber so wird es hier gemacht.
Abgesehen davon ist der Niederschlag natürlich äusserst willkommen. Er füllt die Dämme, sichert Futter, schafft jedoch unerwünschten Ungräsern einen Vorsprung. Sie treiben oftmals schneller aus als die wertvollen Futtergräser. Aus Kostengründen reguliert man die Gräserzusammensetzung nur in seltenen Fällen mit Herbiziden. Ist der Weidedruck zu gross oder das Auftreten eines Ungrases zu hoch, wird die betroffene Herde in ein anderes Paddock verschoben.
Schafe werden über 1000 Kilometer weit transportiert
Etwas weniger Staub wird heutzutage in den Schaffarmen aufgewirbelt. «It’s a dying industry in Australia». Das Geschäft mit den Schafen sei eine sterbende Industrie. Der Preis für die Wolle der Merinoschafe sei im Keller.
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Darum hat meine Verwandtschaft «nur» noch 700 Schafe, welche wir ebenfalls eingetrieben, nach Gewicht sortiert und anschliessend verladen haben. «Wo geht es mit ihnen hin?», frage ich meine Tante nach dem Gehetze in den Yards. «Melbourne», sagt sie. Das sind über 1000 Kilometer. Und wieder: so wird das hier gemacht.
Zur Autorin
Sera Jane Hostettler ist australisch-schweizerische Doppelbürgerin und arbeitet während einiger Monate auf drei Rinderfarmen in Australien. Auf einer Fläche von rund 345'000 Hektaren halten ihre Verwandten Kreuzungstiere der Rassen Angus, Brahman, Simmentaler, Hereford und Limousin, die zur Fleischproduktion dienen. In Down Under hat die Agronomin ihre ersten Lebensjahre verbracht, bevor sie mit ihrer Familie in die Schweiz gezogen ist.