Es klingt wie ein feiner Regen, wenn Tausende von Seidenraupen genüsslich an den frischen Maulbeerblättern knabbern. Viele der Seidenbauern sagen, es habe etwas Beruhigendes und Meditatives. Die Tausenden von Seidenraupen, welche in aufgestapelten, perforierten Kunststoff-Transportkisten wohnen und dieses Regengeräusch erzeugen, gehören der Familie Niculescu. Diese stellt in der Region Vâlcea in Rumänien seit Generationen aus Seidenfaden traditionelle, handgefertigte «Borangic»-Textilien her.

Zu Besuch in Stoenesti, Rumänien

Ich stehe zusammen mit Christina Niculescu, der Inhaberin, an einem Tisch. Kiste für Kiste begutachten und sortieren wir die ca. 9 cm langen, weisslichen Raupen. In diesem Stadium befinden sich die Tiere im sogenannten «fünften Alter» oder im Stadium nach der vierten Häutung. Dies ist das letzte Stadium, bevor sie sich einspinnen und verpuppen, um nach der Metamorphose zu einem Nachtfalter zu werden.

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Einige der Tiere in den Kisten zeigen durch ständiges Heben des Kopfes, durch beginnendes Hochklettern an den Rändern, aber auch durch ihr etwas verändertes, fast etwas durchscheinendes und glänzendes Erscheinungsbild, dass sie bereit sind, ihren Kokon aus wertvollem Seidenfaden zu spinnen.

Bis die kleinen Tiere «reif» sind

Andere hingegen tun sich weiterhin an den saftigen, frischen Blättern gütlich und warten lieber noch ein, zwei Tage damit. Den «reifen» Tieren werden Gerüste oder Strukturen angeboten, in welchen sie leicht ihren Kokon spinnen können. Im Falle der Familie Niculescu werden vor allem einfache Holzgitter verwendet, daneben aber auch Eichenäste oder Ähnliches, alles nach alter, traditioneller Technik.

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Den «Nachzüglern» füttern wir frische Maulbeerblätter. Natürlich gehört, wie in jeder ordentlichen Nutztierhaltung, auch das Misten dazu. Es ist erstaunlich, wie viel Ausscheidungen so kleine Tiere in einem Tag zu produzieren vermögen. Sauberkeit und Hygiene sind sehr wichtig in der Seidenraupenaufzucht, da die Tiere sensibel auf Umwelteinflüsse und Krankheiten sind.

Neuer Aufschwung für eine alte Kultur

Ich befinde mich dieses Sommerhalbjahr auf einer Forschungs- und Entdeckungsreise durch verschiedene europäische Länder wie Frankreich, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Italien oder Slowenien; immer auf der Suche nach diesen kleinen Tierchen und den Leuten, welche diese züchten.

Heiss begehrte Seide
Seide als «Königin der Textilien» hat die Leute schon seit jeher fasziniert. Nicht nur im alten China, wo die Seidenraupenzucht vor ca. 5000 Jahren ihren Ursprung hatte, stand lange Zeit die Todesstrafe auf die Ausfuhr von Seidenraupen-Eiern oder Maulbeer-Samen, so wertvoll war das Produkt damals. Natürlich war dieses Monopol langfristig trotzdem nicht aufrechtzuerhalten und so kam die Serikultur, wie diese landwirtschaftliche Produktion auch genannt wird, vor gut 1000 Jahren auch in Europa an und brachte vielerorts wirtschaftlichen Aufschwung und die Etablierung ganzer Industrien.

Lange war die Serikultur in Regionen wie den Cevennen in Frankreich für Bauernfamilien eine der wichtigsten «schnellen» Einkommensquellen. Die meisten hatten ihre kleine Raupenzucht im Dachgeschoss des Hauses und häufig wurden temporär sogar Zimmer in der Wohnung geräumt, um mehr Platz für die Raupen zu haben. Das Auftreten von epidemischen Krankheiten, die billige Rohware aus Asien, sowie neuartige Textilfasern wie Rayon oder Nylon brachten die europäische Serikultur Ende des 19. und während des 20. Jahrhunderts dann aber fast komplett zum Erliegen.

Aktuell gibt es in verschiedenen europäischen Ländern kleinere Initiativen, welche in der Seidenraupenzucht eine interessante landwirtschaftliche Nischenproduktion sehen. Sei es als traditionelles, hochwertiges Handwerk, aber auch bis hin zu modernsten Verwendungen von Seide oder anderen sogenannten Derivaten in Medizin, Biotechnologie oder Kosmetik.

Seidenraupen in der Schweiz

Eine solche Initiative ist die 2009 gegründete Vereinigung Schweizer Seidenproduzentinnen und -produzenten Swiss Silk, welche als Verein Produzent(innen), Verarbeiter(innen) und weitere seideninteressierte Parteien zusammenbringt. Das Geschäftsmodell von Swiss Silk basiert auf der Kreislaufwirtschaft, es wird also alles verwendet und nichts weggeworfen. Und es ist erstaunlich, wie viele nützliche (Neben)-Produkte neben dem eigentlichen Seidenfaden anfallen.

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So ist Seidenraupenkot ein exzellenter Dünger, die Puppen wiederum sind bestes Proteinfutter für Haustiere. Aber auch Reste des Seidenfadens sowie «Zweitwahl»-Kokons werden nicht weggeworfen. Daraus können «Kibiso» und Schapp-Seide hergestellt werden, welche als Rohfasern in ihren Eigenschaften eher Wolle oder anderen Faserstoffen ähneln.

Eine ausgefallene Idee

Ein Artikel auf der Internetseite von Bio Bern im Juni 2022, wo Ueli Ramseier, der Präsident von Swiss Silk, neue Bauern mit Interesse an Serikultur suchte, war der Auslöser für meine wissenschaftliche Reise, welche mich nun letztendlich hier in dieses kleine Bauerndorf namens Stoenesti in den Südkarpaten Rumäniens führte.

Nach dem Lesen des Artikels damals dachte ich: «Seidenraupen in der Schweiz? Hätte ich nicht gedacht! Klingt spannend.» Ich studiere Internationale Landwirtschaft an der HAFL in Zollikofen und bin somit auch etwas vertraut mit «exotischeren» Produktionsformen. Aber Seidenraupen in Europa, darüber war ich bis dahin noch nicht gestolpert.

Gemeinsam voran

Da alle IL-Studierenden (IL für Internationale Landwirtschaft) im letzten Studienjahr während 6 Monaten ins Ausland gehen, um an einem Projekt zu arbeiten, welches dann als Basis für die Bachelorarbeit dient, dachte ich mir: «Warum nicht Seidenraupen in Europa?» Da für Ueli Ramseier eine enge Zusammenarbeit unter den Pro-duzent(innen) auf europäischer Stufe zentral erscheint, war er sofort Feuer und Flamme für die Idee einer Analyse der «Nachhaltigkeit von Serikultur als landwirtschaftliche Nischenproduktion in Europa».

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Gestern hat sich ganz konkret gezeigt, wie so eine «enge Zusammenarbeit» aussehen könnte. Wir führten einen Whatsapp-Videocall durch, bei welchem Ueli einige Informationen zur Abhaspelmaschine in Berndeutsch weitergab. Über den Umweg Englisch übersetzte ich dann die Informationen in Echtzeit per Google-Translate auf Rumänisch. Es hat erstaunlich gut geklappt, Technologie sei Dank, und amüsant war es irgendwie auch. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

La revedere!

Schon sehr bald heisst es «La revedere» – «Auf Wiedersehen» auf Rumänisch. Es wird mir schwerfallen, denn in kurzer Zeit sind mir speziell die zwei osteuropäischen Länder Rumänien und Bulgarien mit ihren wunderschönen Landschaften, aber vor allem mit ihren herzlichen, humorvollen und pragmatischen Leuten sehr ans Herz gewachsen! «La revedere», «auf Wiedersehen» – und nicht lebt wohl.

Zur Person

Stefan Roth (37) hat ein abgeschlossenes Medizinstudium an der Universität Bern. Schon während, aber auch nach dem Studium hat er aber jede Gelegenheit genutzt den weissen Kittel zu Seite zu legen, um seiner Leidenschaft, der Landwirtschaft, nachzugehen. So hütete er während vieler Sommer Schafe auf einer Alp in Graubünden oder machte Freiwilligenarbeit auf Bauernhöfen. Diese Leidenschaft verfolgt er nun in Form eines Agronomie Studiums an der HAFL in Zollikofen mit Schwerpunkt Internationale Landwirtschaft weiter. Das aktuelle Forschungsprojekt zur Serikultur in Europa führt er in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Schweizer Seidenproduzent(innen) «Swiss Silk» durch.